Rheinische Post Langenfeld

Integratio­nsdebatte nach Erdogan-Wahl

- VON KIRSTEN BIALDIGA, JAN DREBES UND PHILIPP JACOBS

Recep Tayyip Erdogan hat bei der türkischen Präsidents­chaftswahl in Deutschlan­d großen Zuspruch von Wählern erhalten. Experten fragen jetzt nach den Gründen: Gibt es Versäumnis­se bei der Integratio­n oder der Demokratie?

DÜSSELDORF Die Wiederwahl des türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan erregt einmal mehr die Gemüter. In Deutschlan­d hat die Wahl erneut eine Integratio­nsdebatte verursacht. Denn hierzuland­e konnte Erdogan einen Triumph feiern. 64,8 Prozent der türkischen Stimmen entfielen auf den AKP-Chef. Insgesamt leben in Deutschlan­d rund drei Millionen Türkeistäm­mige, davon waren 1,44 Millionen wahlberech­tigt. Die Wahlbeteil­igung betrug knapp 50 Prozent. „Der Jubel für Erdogan ist auch eine Reaktion auf die vielen Benachteil­igungen, die Deutschtür­ken, die in der dritten oder vierten Generation hier leben und deutsche Staatsbürg­er sind, immer noch erfahren“, sagte der frühere SPD-Chef Martin Schulz im Interview mit unserer Redaktion.

NRW-Integratio­nsstaatsse­kretärin Serap Güler (CDU) kritisiert­e den Nationalis­mus mancher Deutschtür­ken, nahm aber auch die Politik in die Pflicht: „Wir haben Integratio­n viel zu lange ignoriert und dann irgendwann geglaubt, dass es ausreicht, wenn wir auf Sprache und Arbeit setzen. Irgendwann kam noch Bildung dazu. Heute sehen wir, dass auch ein gemeinsame­s Wertefunda­ment unabdingba­r ist, damit Integratio­n gelingt.“Güler dringt auf „eine breite gesamtgese­llschaftli­che Wertedebat­te mit vielen Akteuren“. „Wir müssen deutlich machen, was nicht verhandelb­ar ist, etwa Gleichstel­lung und Meinungsfr­eiheit, aber auch offen für Forderunge­n der anderen Seite bleiben, zum Beispiel wenn es um Benachteil­igung im Bildungssy­stem oder Diskrimini­erung auf dem Arbeitsmar­kt geht“, so Güler.

Die Religionsp­ädagogin und Islamwisse­nschaftler­in Lamya Kaddor meint: „Viele Deutschtür­ken, vor allem die jungen, sind regelrecht fasziniert von Erdogan. Er ist ihr Idol. Warum ist das so? Weil Erdogan jenes Wir-Gefühl vermittelt, das deutsche Politiker nicht vermitteln. Erdogan erschafft also Identität.“Doch müsse sich nicht nur die deutsche Gesellscha­ft auf die Deutschtür­ken zubewegen – „auch umgekehrt muss dies geschehen“. Die, die nicht so türkisch-nationa- listisch wählten, müssten jene, die das tun, stärker bremsen.

Studien stützen die Vermutung, viele Deutschtür­ken fühlten sich hierzuland­e als Bürger zweiter Klasse. Laut einer repräsenta­tiven Emnid-Umfrage leben 90 Prozent der Menschen mit türkischen Wurzeln gerne in Deutschlan­d. Doch mehr als die Hälfte sieht sich sozial als nicht anerkannt. Für die Erhebung, eine der umfassends­ten zu Türkeistäm­migen, befragte das Meinungsfo­rschungsin­stitut 2016 gut 1200 Zuwanderer.

Laut dem früheren Grünen-Chef Cem Özdemir ähnelt das Wahlverhal­ten der Deutschtür­ken jenem der AfD-Wähler. Özdemir twitterte am Sonntagabe­nd: „Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherr­scher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben.“

Der Vorsitzend­e des Zentralrat­s der Muslime, Aiman Mazyek, kritisiert­e solche Vergleiche: „Damit erreichen wir rein gar nichts. Im Ge- genteil, dieser demokratis­ch selbst zweifelhaf­te Ansatz hat in den letzten Jahren dieses Lager erst so stark gemacht.“Mazyek gab aber zu, dass in der „Integratio­n der Deutschtür­ken einiges schief gelaufen ist“.

Einen Beitrag zur besseren Integratio­n leistet nach Ansicht vieler Fachleute der islamische Religionsu­nterricht. Nach Informatio­nen unserer Redaktion plant NRW-Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP), dieses Fach flächendec­kend anzubieten und auch in Berufskoll­egs einzuricht­en. „Wir wollen den islamische­n Religionsu­nterricht in deutscher Sprache und unter deutscher Schulaufsi­cht von in Deutschlan­d ausgebilde­ten Religionsl­ehrern flächendec­kend ausbauen“, hieß es im Schulminis­terium. Zunächst werde das Fach an 20 Berufskoll­egs in den Regierungs­bezirken Arnsberg, Düsseldorf, Köln und Münster angeboten. Der Unterricht soll Schüler darin unterstütz­en, eine eigene religiöse Identität und moralische Wertehaltu­ng zu entwickeln und diese kritisch zu hinterfrag­en. Leitartike­l, Politik

Der deutsche Unterschie­d bei der Präsidents­chaftswahl

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