„Die Lage eskaliert wegen Söder“
Der frühere SPD-Chef und Kanzlerkandidat über Angela Merkel, gefährliche Alleingänge in der EU und Fehler im Wahlkampf.
BERLIN Martin Schulz humpelt in unsere Berliner Redaktion. Er musste kürzlich eine größere Fuß-Operation über sich ergehen lassen, der Heilungsprozess bereitet ihm ab und an noch Schmerzen. Auch die Geschehnisse in seinem politischen Leben der vergangenen Monate muss er noch verarbeiten. Seine Leidenschaft aber für Europa ist ungebrochen.
Herr Schulz, sehen Sie die Gefahr, dass Europa an der Flüchtlingsfrage zerbricht?
SCHULZ Ja, die Gefahr ist real. Die sich seit Jahren aufbauende Konfrontation wird jetzt richtig hart. Sie wird auch andauern. Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wird es nur kurzfristige Lösungen geben können. Wir brauchen aber nachhaltige Lösungen mit dem Prinzip der Solidarität als Grundsatz. Wir können nicht sagen, wir sind solidarisch, wenn es um Autobahnen in Osteuropa oder um die Förderung von Maisfeldern geht, aber wenn es um die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik geht, sind wir nicht solidarisch. Das geht nicht.
Die Appelle gibt es doch seit Jahren. Müssen nicht mal Konsequenzen für die EU-Länder folgen, die nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen?
SCHULZ Wir brauchen einen Solidarhaushalt. Das hatte ich schon im Bundestagswahlkampf vorgeschlagen. Das bedeutet, dass diejenigen, die die meisten Belastungen für die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen tragen, auch stärker gefördert werden als diejenigen, die nichts tun. Wenn wir von einem Investitionshaushalt in der Eurozone reden, dann muss der natürlich den Ländern zugutekommen, die stark durch die Flüchtlingsproblematik belastet sind.
Können Sie einen Partner in Europa nennen, der die Flüchtlingspolitik so gestalten möchte wie die Bundesregierung?
SCHULZ Vom Grundsatz her handeln Spanien, Portugal, Frankreich, Schweden und die Beneluxstaaten ähnlich wie Deutschland. Es gibt aber kein einheitliches Vorgehen in Europa, obwohl wir es dringend brauchen. Nationale Alleingänge verschärfen die Problemlage. Man muss sich nur die Konfrontation zwischen Italien und Frankreich anschauen, wo Tausende Menschen in der Grenzregion hin- und hergeschoben werden und in geradezu rechtsfreien Räumen kampieren. Das wird auch zwischen Deutsch- land und Österreich passieren, wenn Deutschland einseitig an der Grenze zurückweist. Wir würden einen Verschiebebahnhof in Europa schaffen, Menschen, die Schutz suchen, hin- und herschieben und kein einziges Problem lösen.
Kann der EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag ein Erfolg werden? SCHULZ Es gibt bei einer Reihe von Staaten die Bereitschaft zu bilateralen Rücknahmeabkommen. Es muss gelten, dass mit dem Asylantrag in einem Dublin-Land nicht automatisch das Recht auf Freizügigkeit in ganz Europa verbunden ist. Zurückweisungen können nur geschehen, wenn die Länder, in denen die Flüchtlinge ihr Asylverfahren begonnen haben, diese auch zurücknehmen. Die Länder, die von diesen Mechanismen am stärksten betroffen sind, Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich, werden sich auf gemeinsame Vorgehensweisen einigen müssen.
Kann und muss sich Angela Merkel im Amt halten?
SCHULZ Wir haben dieser Bundeskanzlerin ein breites Mandat für die gesamte Wahlperiode gegeben. Nach aus sozialdemokratischer Sicht erfolgreichen Koalitionsverhandlungen hat Angela Merkel auch von der CSU dieses Mandat erhalten. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Regierung nach 100 Tagen zu Fall zu bringen. Die erste Aussage im Koalitionsvertrag lautet übrigens „Neuer Aufbruch für Europa“und nicht „Abbruch der Europäischen Union“. Das hat die CSU ratifiziert, die SPD mit einer Urabstimmung, die CDU mit einem Parteitag. Die Stabilität dieser Regierung wegen einer Detailfrage eines größeren Themenkomplexes zu gefährden, die in den Koalitionsverhandlungen keinerlei Rolle gespielt hat, ist absolut verantwortungslos. Dieses Detail wird ja nicht herausgepickt, weil die Flüchtlingspolitik insgesamt zur Diskussion steht, sondern einzig und allein, weil in Bayern Landtagswahl ist. Die Lage ist eskaliert, weil Ministerpräsident Söder betoniert in seinen Umfragen steht.
Wird Erdogan nach seiner Wiederwahl und durch das Präsidialsystem gestärkt künftig national und international noch autoritärer auftreten?
SCHULZ Ja, ganz klar. Alle autoritären Herrscher dieser Welt haben ihm spontan gratuliert – einschließlich Viktor Orbán. Wir müssen uns darauf einstellen, dass er mit allen Mitteln versuchen wird, das ganze
Land auf seinen Kurs zu bringen. Die Opposition im Lande wird sich auf noch härtere Zeiten einstellen müssen. Schon dieser Wahlkampf war nicht fair.
Kommen wir zu Nordrhein-Westfalen. Da hat die SPD mit Sebastian Hartmann einen neuen Vorsitzenden. Was ist von ihm zu erwarten? SCHULZ Sebastian Hartmann kenne ich gut. Er wird ein hervorragender Landeschef sein, der für einen Generationswechsel steht und noch viele Erfolge feiern wird.
Ist es strategisch ein Fehler, Parteiund Fraktionsvorsitz in verschiedene Hände zu legen?
SCHULZ Der Fraktionschef hat einen Kampfauftrag im Landtag gegen die Landesregierung. Der Parteichef muss jetzt erst mal sehr viel Integrationsarbeit leisten. Die NRWSPD muss wieder zueinanderfinden und die jüngsten Niederlagen genau analysieren. Diese Aufarbeitung konnte bisher noch nicht erfolgen. Damit wird Sebastian Hartmann viel zu tun haben. Insofern ist eine Ämtertrennung gut. Ihn und Thomas Kutschaty eint, dass sie den Ballast der Vergangenheit jetzt hinter sich lassen müssen. Beim Landesparteitag war eine neue Geschlossenheit spürbar.
Sie waren bei dem Parteitag dabei, Hannelore Kraft nicht. Wie groß ist ihr Einfluss noch auf die NRWSPD?
SCHULZ Das entzieht sich meiner Kenntnis, aber sie arbeitet als Abgeordnete im Landtag für die SPD und vor allem für NRW. Wie ist Ihr Verhältnis zueinander? SCHULZ Wir haben uns seit der NRW-Landtagswahl nicht mehr getroffen. Aber wir haben beide sicher ein hartes Jahr hinter uns.
War es Ihr größter Fehler, sich von Hannelore Kraft auf der Nase herumtanzen zu lassen, was die Nicht-Einmischung in ihren Wahlkampf anging?
SCHULZ Hannelore Kraft ist mir nicht auf der Nase herumgetanzt, und nachträgliche Schuldzuweisungen helfen niemandem. Mein größter Fehler war es, Europa nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen.
War es auch ein Fehler, den „Spiegel“-Autor Markus Feldenkirchen so nah an Sie heranzulassen? SCHULZ Das war ein Experiment, an dem die Partei keinen Schaden genommen hat. Das will ich deutlich sagen. Ich habe auch sehr lange darüber nachgedacht, ob ich es mache. Aber ich wollte, dass die Menschen ein authentisches Bild von mir als Person bekommen. Ich bin jemand, der seine Gefühle nicht verbergen kann. Und das will ich auch gar nicht. Ich wollte zeigen, dass Politik ein sehr menschliches Geschäft ist und kein abgehobener Betrieb. Das kommt im Buch rüber, wie ich finde, und ich denke, das ist sehr wichtig. Politik muss zugänglich und auch nahbar sein.
Viele Leute fragen sich, ob Sie das Geschehene schon verarbeitet haben, und was Sie jetzt planen. SCHULZ Ich habe mich bewusst für einen Amtsverzicht in der Regierung entschieden, als die Debatte um meine Person drohte, den guten Inhalt des Koalitionsvertrages zu überschatten. Mir war die Zustimmung meiner Partei zu diesem Vertrag wichtiger als persönliche Erwägungen.Wenn meine Entscheidung dazu beigetragen hat, dass wir jetzt eine Regierung haben, die die vielen sozialdemokratischen Inhalte, die wir in diesen Vertrag verhandelt haben, umsetzt, dann macht mich das stolz! Jetzt bin ich Abgeordneter im Deutschen Bundestag und fülle dieses wichtige Mandat sehr gerne aus.
Stünden Sie als Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai 2019 zur Verfügung?
SCHULZ Wer die SPD in die Europawahl führt, entscheiden die zuständigen Gremien am Jahresende.