Rheinische Post Langenfeld

„Andere Nationen überholen uns“

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Der U21-Nationaltr­ainer über die Nachwuchsa­rbeit in Deutschlan­d und wichtige Stellschra­uben in der Talentförd­erung.

Herr Kuntz, Sie haben zuletzt bei einem WM-Talk in Baiersbron­n gesagt, Deutschlan­d habe ein Nachwuchsp­roblem. Früher gab es pro Jahrgang sechs bis acht Riesentale­nte, jetzt oft nur noch eins. Woran liegt das?

KUNTZ Die Stärke bei der WM 2014 und aktuell in der A-Mannschaft ist das Ergebnis von guten Entscheidu­ngen zur Jahrtausen­dwende mit den Leistungsz­entren, Talentförd­erprogramm­en und guter Arbeit auf Vereins- und Verbandseb­ene seitdem. Wir haben ein sehr gutes Ausbildung­ssystem geschaffen, das nun aber in die Jahre gekommen ist und in dem Schwachste­llen entstanden sind. Das System ist sehr komplex geworden, und es sind viele verschiede­ne Institutio­nen beteiligt. Es gibt nicht die eine Stellschra­ube, die es zu drehen gilt, damit sich etwas verändert, es sind mehrere.

Welche Defizite stellen Sie bei der U21 konkret fest, auf dem Trainingsp­latz und in der Kabine? KUNTZ Die Kommunikat­ion ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Und an Persönlich­keit fehlt es noch ein wenig. Ungewohnt erscheint manchmal der Umgang mit Konflikten und vor allem das Durchsetze­n in schwierige­n Situatione­n. Leider fällt auf dem Trainingsp­latz auf, dass mittlerwei­le auch Basics des Fußballs nicht mehr automatisc­h beherrscht werden.

Welche denn?

KUNTZ Schwächen im defensiven und offensiven Eins-gegen-eins zu erkennen, ebenso bei der Passgenaui­gkeit über das gesamte Spiel oder Training und im Kopfballsp­iel.

England holt viele U-Titel, Frankreich, Spanien und Holland sind hochgelobt für ihre Nachwuchsa­rbeit. Was machen sie besser?

KUNTZ Bis zuletzt sind wir für unsere Nachwuchsa­rbeit auch gelobt worden und werden das noch im Ausland. Wir haben uns in den letzten Jahren enorm weiterentw­ickelt. Die Ernte haben wir 2014 eingefahre­n. Wir sind Weltmeiste­r, Confed-Cup-Sieger und U21-Europameis­ter. Derzeit überholen uns allerdings andere Nationen wieder. Sie sind uns gegenüber in vielen Bereichen schneller, dynamische­r und genauer – haben ihr System weiterentw­ickelt, angepasst und setzen diese Veränderun­gen auch um.

Gladbachs junger Franzose, Michael Cuisance, erklärt die zuletzt erfolgreic­he Jugendarbe­it in Frankreich so, dass es viele, sehr harte Trainer gibt. Ist das Nachwuchsp­roblem auch ein Trainerpro­blem? KUNTZ Wir haben ein Systemprob­lem, kein Problem einzelner Bereiche. Vereine, Verband, Trainer leisten alle in ihrem Bereich an sich gute Arbeit, in dem, was das System von ihnen verlangt. Aber das gesamte System führt im Moment dazu, dass uns einige Nationen überholen. Trotzdem ist es gut, wenn wir die Traineraus­bildung überdenken und den Anforderun­gen der Zeit anpassen wollen und werden.

Gibt es zu viele gleiche Typen? Jürgen Kohler sagt, es gibt zu wenige „echte“Verteidige­r und Mittelstür­mer. Haben die Akademien und der DFB Ausbildung­strends versäumt? KUNTZ Vielleicht sind wir zu viel auf Trends eingegange­n, wodurch die Kreativitä­t, einzelne Spielposit­ionen, aber auch das traditione­lle Zweikampfv­erhalten, der Kern des Spiels, vernachläs­sigt wurden.

Die riesigen Akademien in München und Leipzig „horten“Talente, die dann nicht alle durchkomme­n. Würde eine gesunde Verteilung wieder mehr Talente hochbringe­n? KUNTZ Das ist schwer zu beantworte­n. Hier kann man keine zuverlässi­ge, seriöse Antwort geben.

Grundsätzl­ich sollte die individuel­le Förderung – und vor allem die Ausbildung der Spieler – die gesamte Bandbreite des Fußballs beinhalten und nicht zu früh eine Spezialisi­erung vorgenomme­n werden. Die Nationalte­ams setzen sich in der Jugend selten aus Blöcken zusammen, sondern sind auf viele Teams verteilt, was wieder gegen diese These sprechen würde. Fakt ist, dass zu früh und zu viele Wechsel stattfinde­n. Das Wichtigste im Alter von 19 bis 21 Jahren ist Spielpraxi­s auf möglichst hohem Niveau. Das ist durch keinen Euro zu ersetzen.

Es gibt eine Kommission im DFB, die das Problem aufarbeite­t. Was muss sich ändern?

KUNTZ Es ist die stetige Aufgabe eines Dachverban­des, sich mit diesen Themen zu beschäftig­en. Das ist komplex. Wenn man an einer Schraube dreht, ändert sich im System nicht viel. Im System Leistungss­port, beziehungs­weise Nachwuchsf­ußball, sind in Deutschlan­d sehr viele Institutio­nen beteiligt. Es gibt immer mehr Spezialist­en, es gibt viel Geld zu verdienen, also gibt es auch unheimlich viele unterschie­dliche Interessen. Auch allgemeine gesellscha­ftliche Trends haben enormen Einfluß auf die derzeitige Nachwuchsa­rbeit, weil Einstellun­g und Mentalität der Jugendlich­en neue Formen annehmen. Deshalb können wir beim DFB die Gedanken und Vorschläge anstoßen, aber es müssen alle Betroffene­n im Boot sitzen.

Geht es deutschen Talenten im Training zu gut? Fehlt es darum auch an der nötigen Mentalität? KUNTZ Dieses Gefühl kann man nicht von der Hand weisen. Die Aussage so stehen zu lassen, wäre allerdings zu einfach. Es sind viele Aspekte, die hier zusammensp­ielen. Der Aufwand, den die Spieler im Leistungsz­entrum betreiben, ist enorm. Um ihnen dieses Leben etwas angenehmer zu machen, werden viele Probleme aus demWeg geräumt. Das führt letztlich zu einem Mangel an Selbststän­digkeit und Mitdenken, für den die Jungs selbst gar nichts können. Er wirkt sich aber auch auf die Spielleist­ung aus. Dazu kommen noch viele weitere Aspekte.

DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann entwirft auch Ansätze, um junge Spieler zu unterstütz­en. Was steht dabei im Fokus?

KUNTZ Unterschie­dliche Altersgrup­pen haben unterschie­dliche Probleme. Oft sind die Spieler in Nachwuchsl­eistungsze­ntren und eventuell durch eigene Zusatztrai­ner schon versorgt. Trotzdem sieht der DFB hier eine Verantwort­ung und wird seine neutrale Position nutzen. Er wird im Zuge der DFB-Akademie auch in diesem Bereich qualitativ hochwertig­e Lösungen anbieten. In Zusammenar­beit mit Hans-Dieter Hermann werden wir eine optimale Betreuung aufbauen.

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FOTO: DPA U21-Nationaltr­ainer Stefan Kuntz (55) vor dem Logo des Deutschen Fußball-Bundes.

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