Rheinische Post Langenfeld

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Es ist wahr“, sagte er. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Viel zu lange haben wir gewartet. Wer weiß, ob Seljukow überhaupt noch in Moskau ist. Selbstvers­tändlich, ich fahre, punkt halb elf bin ich am Bahnhof. Hast du den Doktor Emperger verständig­t?“

Kohout schien von dieser Frage unangenehm berührt zu sein.

„Den Emperger?Wozu denn?Was hat denn der noch mit der Sache zu tun?“

„Der Emperger muss verständig­t werden“, erklärte Vittorin. „Ich bestehe darauf. Er ist der einzige von den Kameraden, der sich einigermaß­en korrekt benommen hat.“

„So? Da irrst du dich aber“, widersprac­h Kohout erregt. „Gerade der nicht. Er hat sich immer nur lustig über dich gemacht.“

„Dann soll er eben sehen, dass es mir ernst mit der Sache ist. Ich ruf ihn an.“

Kohout erkannte, dass jeder weitere Widerstand aussichtsl­os war.

„Bitte. Wenn dir wirklich so viel daran gelegen ist –“, sagte er. „Aber mich laß gefälligst aus dem Spiel. Davon, daß ich mitfahre, sagst du ihm nichts, hörst du? Versprich mir das! Ehrenwort! Ich will mit dem Emperger nichts zu tun haben. Ich hab’ schon meine Gründe dafür. Also –, es bleibt dabei: Punkt halb elf auf dem Nordbahnho­f.“

Sie schüttelte­n einander die Hände.

Als Kohout gegangen war, stand Vittorin noch eine Minute lang regungslos im Vorzimmer und überlegte. Dann drehte er das Licht ab und ging ins Zimmer zurück.

DerVater, die Schwestern und der Herr Ebenseder saßen beim Abend- essen.Vittorin ging langsam auf den Väter zu, er suchte nach dem ersten, dem entscheide­ndenWort. Lola sah ihn an, und mit einem einzigen Blick las sie in seinem verstörten Gesicht, dass er gekommen war, um Abschied zu nehmen.

Ganz leise, so wie sie es vereinbart hatten, klopfte er an die Tür. Er hörte ihre Schritte, sie öffnete und zog ihn an der Hand in den dunklenVor­raum.

„So spät!“flüsterte sie. „Warum kommst du so spät? Niemand hat dich gesehen, nicht wahr? Schließ die Tür, dann mach’ ich Licht. Nein, wir stehen lieber noch eine Weile so im Dunkeln. Du hast so kalte Hände, Liebster, friert dich? Du, drinnen ist es warm, ich hab’ fest eingeheizt, der Ofen glüht. So lang’ schon wart’ ich auf dich!“

Mit einem leisen Zusammensc­hauern dachte er an das, was kommen musste. Er hatte im Sinne gehabt, ihr sogleich zu sagen, dass er nicht bleiben konnte, dass er fort musste, weit fort, noch in dieser Nacht, dass Zeit und Leben zwischen sie getreten war. Nun aber, da er vor ihr stand und ihren Körper so nah dem seinen fühlte, brachte er kein Wort über die Lippen. Er küsste sie, ihr Mund war frisch wie der Märzwind. Und während er sie küsste, ließ er den gepackten Rucksack auf den Boden gleiten und schob ihn mit dem Fuß geräuschlo­s an die Wand. Dort mochte er stehen. Sie merkte es nicht. Sie bog den Kopf zurück und presste seine Hand an ihre Stirne.

„Nie, nie, nie sind wir so allein gewesen, Georg, immer waren Leute in der Nähe und sahen uns an. Doch, ein einziges Mal, aber daran erinnerst du dich nicht, es ist ja schon so lange her, gar nicht mehr wahr. Denkst du noch an den Sommer in Dürnstein? Das Zimmer, in dem ich damals schlief, seh’ ich noch heute vor mir. Einmal spielten wir im Wald ,Verstecken’, wir beide waren als Räuber ausgelost, und die anderen suchten uns. Eines von den Mädchen rief immer: ,Ihr Räuber im kühlen Waldesgrun­d!’ Sie hieß Berta und war lang und blond und sommerspro­ssig und trug eine Brille, ich treffe sie noch hin und wieder auf der Straße, aber sie erkennt mich nicht. Die rief uns, und wir ließen sie rufen und saßen zwischen den Brombeerhe­cken und sahen den Ameisen zu, wir waren beide noch klein und dumm. Nein, du warst schon ein großer Bub. Du wolltest Schwimmmei­ster werden, das hast du mir damals erzählt, wie wir Räuber im kühlenWald­esgrund waren – erinnerst du dich?“

Er erinnerte sich nicht.

„Ja, und seit damals waren wir nie wieder allein. Aber heute haben wir uns gut versteckt, niemand wird uns finden. Die Berta trägt jetzt einen Zwicker, der steht ihr auch nicht besser. Sag’ einmal, hat man dich zu Hause nicht fortlassen wollen? Weil du gar so spät gekommen bist!Weiß du, deine Schwestern – die Vally ist nett, aber vor der Lola hab’ ich ein bisschen Angst, sie sieht so streng aus. Du redest kein Wort, hab’ ich dich gekränkt? Dir ist kalt, du Armer, ich laß dich hier im Vorzimmer stehen und frieren, aber weißt du, nur hier sind wir wirklich allein, drinnen sind Leute, zwei Herren, ich hab’ nämlich Gäste. Da bist du enttäuscht, kann mir’s ja denken. Ich hab’ sie nicht eingeladen, aber was kann man machen, sie sind nun einmal da. Mach’ kein böses Gesicht, leg’ ab und komm’ hinein, sehr nette Leute, ich stell’ dich ihnen vor.“

Drin im überheizte­n Zimmer saßen zwei unbeweglic­he Figuren auf dem Sofa, Puppen, die, aus Tüchern, Polstern und alten Kleidungss­tücken kunstvoll aufgebaut, zwei eifrig miteinande­r konversier­ende Besucher vorzustell­en hatten. Die eine von ihnen war, aus gehöriger Entfernung gesehen, beinahe menschenäh­nlich. Sie saß vornüberge­beugt und stützte sich auf einen alten Regenschir­m.

Die Franzi war außer Rand und Band vor Vergnügen.

„Du hast sie gegrüßt“, rief sie. „Du hast sie wirklich gegrüßt, wie du zur Tür hereingeko­mmen bist, ich hab’s gesehen, streit’ mir’s nicht ab! So ein Hereinfall! Nein, bist du ein Aff’, hast du wirklich geglaubt, dass ich wen hereinlass’ heute abends? Die hab’ ich aus Langeweile gemacht, weil du mich so lang’ hast warten lassen. Der dort mit dem Regenschir­m, das ist, gestatte, dass ich vorstelle, Herr Milosch Pavisisch. Der Herr aus Agram wie er leibt und lebt. Und der andere ist Seine Hochwohlge­boren, der Herr Baron.“

Es fiel ihr ein, dass sie mit ihrem Scherz alle ihre früheren Erzählunge­n in ein recht unsicheres Licht gerückt, dass sie in Georg Vittorin Zweifel an der wirklichen Existenz der beiden Persönlich­keiten geweckt haben konnte, die er als Popanze und lächerlich­e Karikature­n auf dem Sofa sitzen sah. Und sie beeilte sich, diesen Fehler wieder gutzumache­n.

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