Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Der Herr aus Agram hat heut wirklich die Keckheit gehabt, zu kommen“, erzählte sie. „Denk’ dir, um halb sieben läutet’s. Ich hab’ mich nicht aus dem Zimmer gerührt, ich wußte natürlich, dass du’s nicht sein kannst, erstens viel zu früh, und dann, du hättest doch geklopft und nicht geläutet. Ich bleib’ also ruhig im Zimmer und laß ihn läuten, zweimal, dreimal – schließlich ist er dann abgezogen. Wahrscheinlich patrouilliert er noch jetzt unten auf der Straße und flucht auf serbokroatisch. Hast du ihn vielleicht gesehen?“
„Es ist schon möglich“, sagte Vittorin. „Ein kleiner magerer Herr mit rötlichem Schnurrbart ist vor dem Haustor auf und ab gegangen.“
Aber diese Beschreibung passte durchaus nicht zu dem Bild, das sich die Franzi von dem Herrn aus Agram zurechtgelegt hatte. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ausgeschlossen, das ist er nicht. Klein? Mager? Rötlicher Schnurrbart? Das könnte eher der Baron gewesen sein.“
„Ja, weiß denn der Baron auch, dass deine Eltern verreist sind?“fragte Vittorin.
„Keine Ahnung hat er davon, keine Ahnung“, sagte Franzi rasch. „Oder sollt’s ihm am Ende der Herr Milosch gesagt haben? Möglich wär’s.“
„Kennen denn die beiden einander?“fragte er verwundert.
Die Sache begann der Franzi über den Kopf zu wachsen. „Nein –, das heißt, natürlich kennen sie einander, aber nur ganz oberflächlich. Sie sind nämlich beide Mitglieder des Highlifeklubs. Wie eben ein Klubmitglied das andere kennt. Aber das kannst du mir glauben:Wenn ich ge- wußt hätt’, dass es der Baron ist, dem hätt’ ich meine Meinung ordentlich gesagt. Ein unverschämter Mensch! Was der mir für Briefe schreibt. Er soll nur unten stehen und frieren, geschieht ihm schon recht. Und jetzt geh’ ich und mach’ den Tee. Kommst du mit in die Küche, Georg? Oder willst du hier warten? In zwei Minuten ist er fertig.“
Leichtfüßig eilte sie hinaus, indes Vittorin beim Ofen stehenblieb. Aus seiner verworrenen Seele stiegen Zorn und Beschämung empor. Im Zwiespalt mit sich selbst nannte er sich einen verächtlichen Feigling, mit verzerrtem Gesicht wiederholte er diese Beschimpfung, die er von einem anderen nicht ertragen hätte, selbstquälerisch schleuderte er sie sich immer wieder von neuem zu, während er trüben Sinnes ins Feuer starrte. Ja, er war ein verächtlicher Feigling, er nahm das nicht zurück. Während sie im Zimmer war – wo war da sein Mut gewesen, kein Wort hatte er hervorgebracht. Und die Zeit lief, die Zeit wollte nicht stille stehen, nur noch wenige Minuten blieben ihm. Er musste sprechen, die Zeit drängte, es gab keinen Aufschub mehr. Nur die ersten Worte, die waren so bitter schwer zu finden, aber wenn sie einmal gesprochen waren, dann war das Schlimmste auch schon vorüber. Und er mußte sprechen, um halb elf am Bahnhof, und sie wußte noch immer nichts –
Da kam plötzlich ein fröhliches Auflachen aus dem Vorzimmer. Die Franzi hatte den Rucksack entdeckt. Triumphierend stieß sie die Türe auf.
„Beinahe wär’ ich über ihn gestolpert“, rief sie. „Der Rucksack! Natürlich! An den hab’ ich gar nicht mehr gedacht. Du hast zu Hause sagen müssen, dass du einen Ausflug machst, sonst hätten sie dich überhaupt nicht fortgelassen. Sag’ einmal, Georg, wohin geht denn die Fahrt?“
„Nach Russland“, sagte Vittorin, aber der Mut verließ ihn, und er sprach das verhängnisvolleWort mit so leiser Stimme, dass sie es nicht verstand. Sie legte ihren Arm um seinen Hals.
„Haben sie dir den Ausflug geglaubt?“fragte sie. „Weißt du, Georg, ich will dir was sagen: Mir ist es gleichgültig, ob sie’s wissen oder nicht, dass du bei mir bist, mir ist das wirklich ganz gleichgültig. Wozu denn das Versteckenspielen? Was ich tu’, dazu bekenn’ ich mich auch, feig’ bin ich nie gewesen.“
Sie stand vor ihm mit einem beherzten und entschlossenen Zug um den kindlichen Mund und mit einem strahlenden Lächeln in den Augen, bereit, in seinen Armen die Welt zu vergessen. Aber er sah es nicht, er wollte es nicht sehen.
Sie nahm den Rucksack vom Boden und stellte ihn auf den Tisch.
„Hat der aber ein Gewicht! Ich will doch einmal sehen, was du da alles hineingepackt hast.“
Sie löste die Schnüre, und das erste, was ihr in die Hände kam, war das rote Heft mit den russischen Vokabeln. Mit neugierigen Augen studierte sie die fremdartigen Zeichen.
„Was hast du da?“fragte sie. „Ist das Griechisch?“
„Das ist Russisch“, sagte Vittorin kurz und hart.
„Willst du am End’ hier arbeiten? Weißt du, du hast manchmal Einfälle! Ich glaub’ nicht, dass du heut’ und morgen viel Russisch lernen wirst.“
Sie legte das Heft auf den Tisch, da glitt zwischen den Blättern eine Photographie hervor, das Bild einer hochgewachsenen und strenge blickenden jungen Frau, die in steifer Haltung vor einem gemalten Tulpenbeet stand und ein Taillenkleid mit Puffen an den Ärmeln trug.
„Was ist denn das?“fragte die Franzi.
„Das ist ein Jugendbildnis meiner verstorbenen Mutter“, sagte Vittorin. „Du hast sie ja nicht gekannt. Ich soll ihr ähnlich sehen. Ich nehm’ es immer mit, wenn ich –“
Der Augenblick war da. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
„– wenn ich auf längere Zeit verreise. Damals, um 1900 etwa, hat man solche Puffen an den Ärmeln getragen. Schön war die Mode nicht, ich hab’ aber nur das eine Bild. Im Felde und dann in der Gefangenschaft hab’ ich es auch immer bei mir gehabt.“
Die Franzi sah ihn mit erschreckten Augen an.
„Du fährst doch nicht fort, Georg? –
Gib doch Antwort! Du fährst fort? Ist das dein Ernst? Und das sagst du mir heute? Wohin denn?“
Vittorin nahm ihr das Bild seiner Mutter aus der Hand und legte es in das rote Heft.
„Nach Russland“, sagte er. „Deswegen mußt du aber nicht gleich so verstört dreinsehen. In ein paar Wochen bin ich wieder zurück.“
„Du hast schon einmal davon gesprochen, dass du nach Russland zurück willst. Es ist also dein Ernst“, sagte die Franzi leise und verzagt. „Was suchst du denn dort?“
„Das darf ich dir nicht sagen. Das ist keine Sache, über die man mit Frauen spricht.
(Fortsetzung folgt)