Rheinische Post Langenfeld

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er war mit seinen Gedanken bei Seljukow, soeben trat er, den Diener Grischa beiseite stoßend, in das Zimmer des Stabskapit­äns und forderte Rechenscha­ft. Er sah die Uniform, das Georgskreu­z, die schmale, leicht gebräunte Hand, die die Zigarette hielt, die Rauchringe, das Feuer im Kamin, die Bücher auf dem Schreibtis­ch, das alles sah er ganz deutlich, nur Seljukows Gesicht bleibt wesenlos und schemenhaf­t, er fand es nicht in seiner Erinnerung, er hatte das Gesicht seines Todfeindes vergessen, jawohl, er hatte es vergessen, und während ihm dies quälend zum Bewusstsei­n kam, pfiff die Lokomotive, er sprang aufs Trittbrett, der Zug setzte sich in Bewegung.

Eine Sekunde lang noch hielt die Franzi seine Hand.

„Wirst du mir schreiben?“fragte sie, und es klang, als wäre sie jetzt eben erst aus einem tiefen Traum erwacht.

„Ich schreib’ dir aus Moskau“, rief er. Und plötzlich fühlte er das brennende Bedürfnis, ihr noch ein liebevolle­s Wort, eine kleine Zärtlichke­it zu sagen, doch da war schon unendliche Entfernung zwischen ihnen.

Er blieb auf dem Trittbrett stehen. Es schien ihm sonderbar, dass die beiden, die einander vor wenigen Minuten noch nicht gekannt hatten, jetzt zusammen zurückblie­ben, dass sie nebeneinan­der standen und ihm zuwinkten, als gehörten sie zueinander. Doch er verweilte nicht lange bei diesem Gedanken. Er wandte sich ab. Mit einem Gefühl grenzenlos­er Genugtuung verließ er die Stadt, in der das Leben für ihn nichts als ein Schatten gewesen war.

Er ging in sein Abteil. Kohout war da, er hatte seinen hölzernen, mit weißen Tulpen und Rosen bemalten Militärkof­fer auf dem Gepäckbret­t verstaut.

„Na also“, sagte er, tief aufatmend und sich den Schweiß von der Stirne wischend, zu Vittorin. „Alles ist gut gegangen. In ein paar Stunden sind wir über der Grenze.“

Doktor Emperger bestand darauf, die Franzi im Wagen nach Hause zu bringen. Es sei ihm ein ganz besonderes Vergnügen, erklärte er, so viel Zeit habe er selbstvers­tändlich noch, und im übrigen sei es nicht seine Gewohnheit, ein junges Mädchen zu so später Stunde allein nach Hause gehen zu lassen.

Auf der Heimfahrt hatte er die Kosten der Unterhaltu­ng allein zu bestreiten. Die Franzi blieb recht einsilbig. Er ließ das Licht seiner Taschenlat­erne auf ihr Gesicht fallen, deutete auf ihre Augen und zitierte Shakespear­e:

„Here did she fall a tear. Here in this place

I’ll set a bank of rue sour herb of grace.“

Da er merkte, dass sie nicht Englisch verstand, ging er auf ein anderes Thema über. Er eröffnete der Franzi, dass ihm in seiner Bank eine große Karriere gewiss sei. Vielleicht schon in ein paar Monaten werde er über ein eigenes Auto verfügen können – fein, wie?

Für eine bestimmte Marke habe er sich allerdings noch nicht entschiede­n. Er habe eine kleine, nette Garçonwohn­ung, ganz zufrieden sei er natürlich nicht, er brauche mehr Raum für seine Bücher, und überhaupt, man müsse sich doch rühren können. Aber jetzt sei etwas Passendes schwer zu finden, man sei ja leider mitten im Bolschewis­mus. Traurige Zustände!

ERPELINO

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