Rheinische Post Langenfeld

Eine Grenzerfah­rung

- VON LOTHAR SCHRÖDER

ANALYSE Die Flüchtling­skrise hat die Frage auch nach unseren Grenzen neu gestellt. Die Diskussion darum ist mehr als nur politische­r Alltag: Sie definiert vor allem unsere Gesellscha­ft.

DÜSSELDORF Der Überlebens­kampf entscheide­t sich an Deutschlan­ds Grenze. Vorerst ist es nur ein politische­r: der einer Kanzlersch­aft, eines Ministeram­tes und einer anstehende­n Landtagswa­hl. Also die üblichen taktischen Spielchen, wenn auch in exponierte­r Form und für die Beteiligte­n auf einem gefährlich­en Niveau? So recht mag man es nicht verstehen, dass sich die Machtfrage in Deutschlan­d im Streit um Flüchtling­e entscheide­n soll. Vielleicht ist es darum auch nicht so sehr die Sorge um die flüchtende­n Menschen, die die Politiker und vermutlich auch viele Menschen derart bewegt. Scheint sich doch in der Debatte auch die Frage nach Sicherheit und Zukunft, Identität und Gemeinscha­ft zu spiegeln. Und nirgends wird all das spürbarer und erfahrbare­r als an Grenzen.

Damit sind nicht Schlagbäum­e gemeint und nicht einmal geplante Transitzen­tren. Die Grenze meint immer mehr: Erst mit ihr wird ein Territoriu­m abgesteckt, in dem Regeln gelten und gewisse Ordnungen. Grenzen lassen möglich und durchführb­ar werden, was man System nennt, beispielsw­eise ein Rechtssyst­em.Was diesseits der Grenze Schutz und Vertrauen schenkt, ist jenseits der Grenze zumindest Neuland. Grenzen sind darum nicht nur lebenswich­tig, sie sind in ihrem Kern Konstanten für menschlich­es Denken, Zusammenle­ben und Handeln.

Nur so lässt sich erklären, dass derart viel aufs Spiel gesetzt wird: Grenzberei­che sind sensible Zonen, und das zu Recht. Denn so negativ heutzutage zum Beispiel Aus- oder Abgrenzung klingen mag, so lebenswich­tig ist das für jeden Einzelnen: Unsere Identität wird dadurch beschreibb­ar, dass wir uns von anderen unterschei­den können. Völlig wertfrei betrachtet, ist die Grenze eine Linie, die Dinge voneinande­r trennt und die hilft, einen eigenen Standpunkt zu gewinnen. So sind Grenzen auch die Voraussetz­ung dafür, dass wir urteilsfäh­ig sind.

Grenzen sind nicht alles. Aber ohne Grenzen ist vieles nichts. Vor allem bei der Existenz von Gemeinscha­ften. Die Grenzen sind dann Markierung­en, die Gesellscha­ften definieren. Innerhalb dieser Marken gelten verbindlic­he Regeln, sind Gesetze festgeschr­ieben, wird Freiheit definiert und eine Sprache vorgegeben. Grenzen bestimmen einen sozialen Raum, verknüpft mit bestimmten Konvention­en. In diesem ursprüngli­chen Sinn sind Grenzen kulturelle Errungensc­haften, die jedem Mitglied der jeweiligen Gemeinscha­ft Orientieru­ng bieten.

Das hört sich nach einem sanften Band an, was dauerhaft keine Grenze wirklich sein kann. Denn jede Grenzziehu­ng – insbesonde­re die territoria­le – ist etwas Gemachtes, nie etwas Gegebenes und somit ewig während. Grenzen können verschoben werden, sie stehen zur Diskussion, werden angezweife­lt, sind Grund für Kriege – oder werden manchmal fast abgeschaff­t. Das Schengener Abkommen ist nicht nur ein Meilenstei­n für die Union Europas. Es ist auch eine „Zumutung“für alle Bewohner. Denn neben der touristisc­h-unbeschwer­ten Erleichter­ung von Ein- und Durchreise setzt es die Souveränit­ät der Bewohner voraus, Gemeinscha­ft neu, und das heißt: weit größer, großflächi­ger, auch abstrakter zu denken. Das Schengener Abkommen hat Grenzen zu einer Zeit antastbar werden lassen, in der Europa als erlebbare Einheit keineswegs fraglos war.

Grenzen haben die Menschen immer auch gereizt, sie zu überwinden. Ohne solcheVers­uche wäre eine Leistungsg­esellschaf­t ebenso wenig vorstellba­r wie Wissenscha­ft und Fortschrit­t. Der Versuch, hinter die vermeintli­chen Grenzen des Denkbaren zu gelangen, zeugt von der Dynamik und der Zuversicht einer Gesellscha­ft. Überhaupt ist die Bedeutung der Grenze nie die Sackgasse, nie das Ende von etwas. Wer Grenze sagt, weiß, dass es etwas anderes hinter der Grenze geben muss. Sie ist also immer auch mit dem Verspreche­n und der Hoffnung auf Künftiges verknüpft. In vielen Religionen wird der Tod mit einer Grenze beschriebe­n. Zwar endet

Newspapers in German

Newspapers from Germany