Mehr Kinder brauchen psychische Hilfe
Die Zahl der Diagnosen etwa von Autismus, Stottern oder „Zappelphilipp-Syndrom“in NRW steigt. Die Landesregierung fordert mehr ambulante Therapieplätze – die Wartezeiten seien zu lang.
DÜSSELDORF Die niedergelassenen Psychiater, Ärzte und Therapeuten in NRW stellen immer häufiger psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen fest. Das geht aus einer Auswertung des Landesgesundheitsministeriums hervor, die unserer Redaktion vorliegt. So stieg allein die Zahl der ambulanten Diagnosen „tiefgreifender Entwicklungsstörungen“von 2010 bis 2016 um 143 Prozent auf 34.760. Dazu zählen frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom.
Emotionale Störungen wie altersunübliche Trennungsängste stellten die Experten 2016 insgesamt 78.194 Mal fest: 45 Prozent mehr Fälle als 2010. Insgesamt wurde in den Praxen 2016 mehr als 290.000 Mal eine Entwicklungsstörung des Sprechens wie Stammeln oder Stottern, mehr als 120.000 Mal eine sogenannte hyperkinetische Störung (etwa das „Zappelphilipp-Syndrom“) und mehr als 117.000 Mal eine Verhaltens- oder Emotionsstörung wie Bettnässen festgestellt.
Die dramatische Zunahme muss nicht auf mehr Erkrankungen hindeuten.„Es gibt eine gestiegene Sensibilität für psychische Erkrankungen. Betroffene nehmen häufiger Beratungsangebote in Anspruch“, sagte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und verwies auf Studien, denen zufolge die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen relativ konstant ist. Die Flüchtlingskrise könne sich in dem betroffenen Zeitraum noch nicht deutlich in den Zahlen niedergeschlagen haben, hieß es aus dem Ministerium.
Laumann fordert mehr Therapieangebote. „Um die Versorgung von Kindern und Jugendlichen weiter zu verbessern, muss der Gemeinsame Bundesausschuss auch mehr Therapieplätze im ambulanten Bereich zur Verfügung stellen“, sagte Laumann. Der Ausschuss ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. In ihm sind etwa Krankenkassen, Krankenhäuser und Ärzte vertreten. Die Landespolitik hat auf seine Entscheidungen kaum Einfluss.
Laumann kritisierte: „Es gibt immer wieder Berichte über langeWartezeiten und eine unzureichende bundesweite Bedarfsplanung.“Die orientiere sich nicht an der Häufigkeit von Erkrankungen.
Die stationäre Versorgung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher in NRW hat sich indes verbessert: Die Zahl der Plätze stieg von 1587 im Jahr 2005 kontinuierlich auf inzwischen 2054.
Die jüngsten Statistiken aus dem stationären Bereich sind vier Jahre alt. 2014 wurden dort 5603 Fälle depressiver Episoden bei Kindern und Jugendlichen festgestellt sowie 5386 Fälle von Verhaltensstörungen, wie sie typischerweise durch Alkoholmissbrauch entstehen. In den Kliniken stellten die Experten auch häufig Reaktionen auf besonders belastende Ereignisse fest: 2564 Kinder und Jugendliche zeigten allein 2014 solche Symptome. Ambulant wurden sie 2016 in NRW mehr als 90.000 Mal festgestellt.
Nach Angaben des Experten für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerd Schulte-Körne von der Universitätsklinik München, sind weltweit zehn bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen von psychischen Störungen betroffen. In Deutschland liege die Rate bei etwa zehn Prozent. Allerdings sei nur etwa ein Drittel der Erkrankten in ärztlicher Behandlung.
Leitartikel