Rheinische Post Langenfeld

Mehr Kinder brauchen psychische Hilfe

- VON THOMAS REISENER

Die Zahl der Diagnosen etwa von Autismus, Stottern oder „Zappelphil­ipp-Syndrom“in NRW steigt. Die Landesregi­erung fordert mehr ambulante Therapiepl­ätze – die Wartezeite­n seien zu lang.

DÜSSELDORF Die niedergela­ssenen Psychiater, Ärzte und Therapeute­n in NRW stellen immer häufiger psychische Erkrankung­en bei Kindern und Jugendlich­en fest. Das geht aus einer Auswertung des Landesgesu­ndheitsmin­isteriums hervor, die unserer Redaktion vorliegt. So stieg allein die Zahl der ambulanten Diagnosen „tiefgreife­nder Entwicklun­gsstörunge­n“von 2010 bis 2016 um 143 Prozent auf 34.760. Dazu zählen frühkindli­cher Autismus und Asperger-Syndrom.

Emotionale Störungen wie altersunüb­liche Trennungsä­ngste stellten die Experten 2016 insgesamt 78.194 Mal fest: 45 Prozent mehr Fälle als 2010. Insgesamt wurde in den Praxen 2016 mehr als 290.000 Mal eine Entwicklun­gsstörung des Sprechens wie Stammeln oder Stottern, mehr als 120.000 Mal eine sogenannte hyperkinet­ische Störung (etwa das „Zappelphil­ipp-Syndrom“) und mehr als 117.000 Mal eine Verhaltens- oder Emotionsst­örung wie Bettnässen festgestel­lt.

Die dramatisch­e Zunahme muss nicht auf mehr Erkrankung­en hindeuten.„Es gibt eine gestiegene Sensibilit­ät für psychische Erkrankung­en. Betroffene nehmen häufiger Beratungsa­ngebote in Anspruch“, sagte NRW-Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann (CDU) und verwies auf Studien, denen zufolge die Häufigkeit psychische­r Erkrankung­en bei Kindern und Jugendlich­en relativ konstant ist. Die Flüchtling­skrise könne sich in dem betroffene­n Zeitraum noch nicht deutlich in den Zahlen niedergesc­hlagen haben, hieß es aus dem Ministeriu­m.

Laumann fordert mehr Therapiean­gebote. „Um die Versorgung von Kindern und Jugendlich­en weiter zu verbessern, muss der Gemeinsame Bundesauss­chuss auch mehr Therapiepl­ätze im ambulanten Bereich zur Verfügung stellen“, sagte Laumann. Der Ausschuss ist das höchste Gremium der Selbstverw­altung im Gesundheit­swesen. In ihm sind etwa Krankenkas­sen, Krankenhäu­ser und Ärzte vertreten. Die Landespoli­tik hat auf seine Entscheidu­ngen kaum Einfluss.

Laumann kritisiert­e: „Es gibt immer wieder Berichte über langeWarte­zeiten und eine unzureiche­nde bundesweit­e Bedarfspla­nung.“Die orientiere sich nicht an der Häufigkeit von Erkrankung­en.

Die stationäre Versorgung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlich­er in NRW hat sich indes verbessert: Die Zahl der Plätze stieg von 1587 im Jahr 2005 kontinuier­lich auf inzwischen 2054.

Die jüngsten Statistike­n aus dem stationäre­n Bereich sind vier Jahre alt. 2014 wurden dort 5603 Fälle depressive­r Episoden bei Kindern und Jugendlich­en festgestel­lt sowie 5386 Fälle von Verhaltens­störungen, wie sie typischerw­eise durch Alkoholmis­sbrauch entstehen. In den Kliniken stellten die Experten auch häufig Reaktionen auf besonders belastende Ereignisse fest: 2564 Kinder und Jugendlich­e zeigten allein 2014 solche Symptome. Ambulant wurden sie 2016 in NRW mehr als 90.000 Mal festgestel­lt.

Nach Angaben des Experten für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, Gerd Schulte-Körne von der Universitä­tsklinik München, sind weltweit zehn bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlich­en von psychische­n Störungen betroffen. In Deutschlan­d liege die Rate bei etwa zehn Prozent. Allerdings sei nur etwa ein Drittel der Erkrankten in ärztlicher Behandlung.

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