„Putin versucht uns zu spalten“
Die estnische Staatspräsidentin fordert eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland.
Frau Staatspräsidentin, die EU steckt in einer Art Glaubenskrise. In Estland glaubt man aber weiter fest an Europa – warum? KALJULAID Vielleicht, weil wir uns hinter dem Eisernen Vorgang so lange nach der EU gesehnt haben. Natürlich ist in der EU vieles sehr schwerfällig, aber es geht ja auch darum, die Interessen vieler Länder unter einen Hut zu bringen. Was wäre denn die Alternative? Jeder für sich? Nein, die EU ist gewiss nicht perfekt, aber sie ist unverzichtbar.
Aber haben wir in der EU nicht eine Spaltung zwischen Ost und West?
KALJULAID Das ist mir zu pauschal. Es kommt ganz darauf an, wovon wir reden. Schauen sie sich etwa die Haushaltsdisziplin an, da liegen zum Bei- spiel Polen und Deutschland sehr viel näher beieinander als Deutschland und Italien, da gibt es eher eine Nord-Süd-Spaltung.
Der Konflikt der EU mit Polen und Ungarn macht Ihnen keine Sorge? KALJULAID Es mag ja sein, dass diese Länder seit einiger Zeit einen betont konservativen, nationalen Kurs fahren. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass sich die Menschen dort von der Idee der liberalen Demokratie völlig verabschiedet hätten. Wir sollten uns die Mühe machen, zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften zu unterscheiden.
Welche Rolle spielt Russland in dieser Auseinandersetzung?
KALJULAID Russland will ganz offensichtlich die regelbasierte Weltordnung verändern, das zeigt die russische Politik der vergangenen Jahre. Und man muss sagen, wir haben leider zunächst nicht schnell und entschlossen genug darauf reagiert. Aus der schwachen Reaktion auf den Georgien-Krieg 2008, in dem Russland erstmals Grenzen einseitig verschieben konnte, hat Wladimir Putin den Schluss gezogen, er könne einfach so weitermachen. Das erklärt auch seine Empörung über die harte Reaktion des Westens auf die russische Aggression gegen die Ukraine. Das hat ihn wirklich überrascht.
Glauben Sie, dass diese Einigkeit des Westens gegenüber Russland von Dauer sein wird?
KALJULAID Ich hoffe es sehr. Russland versucht beständig, unsere Schwächen auszunutzen und uns zu spalten. Aber damit darf Putin nicht durchkommen. Deswegen müssen auch die Sanktionen in Kraft bleiben. Gleichzeitig dürfen wir Russland aber auf keinen Fall abschreiben, der Kontakt darf nicht abreißen.
In Deutschland gibt es Leute, die sind überzeugt, die Nato habe Russland provoziert, indem sie die baltischen Staaten als Mitglieder aufgenommen hat.
KALJULAID Einspruch! Das würde ja bedeuten, dass man in Moskau darüber bestimmen darf, was souveräne Nachbarstaaten zu tun oder zu lassen haben. Das ist völlig inakzeptabel! Und anders als manchmal behauptet wird, hat es auch niemals eine Verpflichtung der Nato gegeben, keine neuen Mitglieder in Osteuropa aufzunehmen.
Wie bewerten Sie die Situation in der Ost-Ukraine?
KALJULAID Das ist kein eingefrorener Konflikt, wie manche gerne sagen, es ist ein Krieg, wenn auch ein vergessener. Als ich im Mai dort war, direkt an der Frontlinie, waren gerade 150 Häuser zerstört worden und deren Einwohner obdachlos geworden. Und es sterben dort praktisch jeden Tag Menschen. Es handelt sich um die größte humanitäre Katastrophe in Europa, und das Schlimmste ist, dass wir nicht sehr viel dagegen tun können.