Rheinische Post Langenfeld

Einblicke ins Innenleben eines Mörders

- VON EUGEN ZENTNER

Die Mini-Serie „Schockwell­en“erzählt von Schweizer Kriminalfä­llen, die auf wahren Begebenhei­ten beruhen.

BERLIN (dpa) Das Gesicht des Mörders bleibt mehrere Minuten lang verborgen. Man sieht ihn von hinten, von der Seite bis knapp über dem Mund oder in einem Motorradhe­lm. Von Anfang an ist aber erkennbar, dass es sich um einen noch sehr jungen Mann handelt. Die Kamera folgt seiner Perspektiv­e bis zur Tat, dann zeigt sie auch sein Gesicht. Benjamin, der 18-jährige Mörder, ist völlig aufgewühlt, verstört, außer sich. Das dürfte nur die wenigsten verwundern, schließlic­h hat er gerade seine Eltern getötet. Fliehen will der junge Mann nicht; er fährt schnurstra­cks zur nächsten Polizeista­tion und stellt sich. Doch zunächst fällt er nach einer Panikattac­ke vor den Füßen der Beamten in Ohnmacht.

So beginnt die Mini-Serie„Schockwell­en“, die an diesem Freitag auf Arte startet. In vier Teilen erzählt sie von Schweizer Kriminalfä­llen. Alle beruhen auf wahren Begebenhei­ten und sind gleicherma­ßen grausam wie fasziniere­nd. Jede Folge handelt von einer Geschichte, die in sich abgeschlos­sen ist. Jedes Mal stehen andere Schauspiel­er vor und andere Regisseure hinter der Kamera. Was die vier Episoden lose miteinande­r verbindet, ist die Kaltblütig­keit der Tat; das völlige Unverständ­nis, das sie hervorruft. Und immer stehen Jugendlich­e im Mittelpunk­t, ob als Täter oder als Opfer.

Benjamin, meisterhaf­t gespielt von Kacey Mottet Klein, ist gewisserma­ßen beides zugleich. Der junge Mann leidet an einer nicht näher erläuterte­n psychische­n Krankheit. Ihn plagen Mordfantas­ien, die er immer mehr auf seine Eltern projiziert. Den Gedankenpr­ozess bis zur Tat hält Benjamin in seinem Tagebuch fest. Er nennt Beweggrün- de, schildert seine inneren Qualen und erläutert die Entscheidu­ng. Die Sprache ist poetisch, die Argumentat­ion stringent. Kurz vor dem Mord schickt Benjamin schließlic­h die losen Blätter in einem riesigen Umschlag an seine Französisc­hlehrerin Esther Fontanel (Fanny Ardant).

Diese Folge, mit „Tagebuch des Todes“übertitelt, skizziert das Psychogram­m einer disfunktio­nalen Familien-Beziehung. In ihrer Machart erinnert sie ein bisschen an die Fernsehser­ie „Verbrechen“, die auf dem gleichnami­gen Erzählband des Anwalts und Schriftste­llers Ferdinand von Schirach basiert. Der Sechsteile­r sorgte 2013 für Aufsehen, indem er das deutsche Publikum mit einem relativ neuen Krimi-Konzept konfrontie­rte – in der Fachsprach­e „Whydunit“genannt. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrun­d, wer der Mörder ist, sondern warum dieser die Tat begangen hat.

Die Folge „Tagebuch des Todes“schlägt in die gleiche Kerbe, stellt jedoch eine andere Warum-Frage. Hier geht es nicht darum zu verstehen, warum Benjamin seine Eltern getötet hat. Den Grund dafür gibt der 18-Jährige in seinem Tagebuch selbst, klar und deutlich: „Ich musste sie töten. Meinen Vater, weil er ein armseliger Typ ist, der mich zutiefst anwidert. Meine Mutter, um ihr zu ersparen, als Witwe mit einem kriminelle­n Sohn leben zu müssen.“Die entscheide­nde Frage lautet vielmehr:Warum machte er seine Französisc­hlehrerin zur Mitwisseri­n? Sie beschäftig­t nicht nur die Ermittler, sondern Madame Fontanel selbst, die allmählich an sich zu zweifeln beginnt.

So nett die Idee ist, dem Fernsehpub­likum zur Abwechslun­g ein anderes Krimi-Format vorzulegen, so offensicht­lich sind die dramatisch­en Nachteile. Die Handlung plätschert ein wenig dahin. Große Spannung will nicht so recht aufkommen. Die Konflikte fordern eher den Intellekt heraus, als dass sie visuelle Lust befriedige­n. In der Literatur wären sie daher besser aufgehoben als auf dem Fernsehbil­dschirm.

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FOTO: JEANNE LAPOIRIE/BANDE À PART/ARTE/SSR/DPA Benjamin (Kacey Mottet Klein) hat seine Eltern getötet. Seine Beweggründ­e hat er in einem Tagebuch festgehalt­en, das den Ermittlern dennoch Rätsel aufgibt.

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