Lückenkemper ist der Hulk des TSV
Der 21-jährigen Sprinterin mangelt es weder an Klasse noch an Selbstvertrauen. Eine EM-Medaille ist ihr Ziel.
LEVERKUSEN Wäre Gina Lückenkemper eine Superheldin, wäre sie vermutlich der Hulk. Die junge Sprinterin des TSV Bayer 04 und den schmächtigen Wissenschaftler aus dem Comic-Universum, der bei Gefahr zum riesigen, grünen Muskelprotz wird, eint einiges. Den Vergleich zog Lückenkemper sogar selbst. Vor den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg sagte sie: „Ich fühle mich wie Hulk.“Dass hinter den markigen Sprüchen ein großes Talent steckt, zeigte sie mit 11,15 Sekunden nach 100 Metern und der Titelverteidigung. „Die erste Rennhälfte war bescheiden, die zweite bombastisch“, sagte sie.
Die Soesterin, die erst seit Anfang des Jahres für den TSV läuft, ist dabei viel mehr als eine Athletin unter vielen. Lückenkemper wurde in wenigen Jahren das Gesicht der deutschen Sprinterinnen. 2016 rückte sie erstmals ins Rampenlicht: Mit der 100-Meter-Staffel wurde sie bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Vierte und ist seitdem auf dem Weg zur Leichtathletik-Marke. Inzwischen wirbt die 21-Jährige für die deutsche Sporthilfe, mehr als 85.000 Menschen verfolgen ihre Karriere auf Instagram. Längst ist sie die Superheldin einer ganzen Bandbreite an Sportarten, die hinter „König Fußball“nahe der Bedeutungslosigkeit ihr Dasein fristen.
„Das ist eine Rolle, derer ich mir bewusst bin“, sagt Lückenkemper. „Der Umgang mit Medien gehört eben dazu. Das ist ein Fulltime-Job.“Sie sagt das so charmant und eloquent, dass man fast vergessen könnte, dass auch sie längst von Pressesprechern abgeschirmt und durchgemanagt wird. Trotzdem drang vor einiger Zeit die Geschichte an die Öffentlichkeit, Lückenkemper habe zu lange in einer engen Bahn gesessen und habe sich dabei eine Verletzung zugezogen. „Das war Quatsch“, bekräftigt sie. Alles halb so wild. Leistungssportlerbeine wie die ihren verkraften längere Fahrten in engen Zugabteilen eben nicht so gut. Doch die Episode zeigt: Lückenkemper ist ein Thema.
Dafür sorgt sie vor allem selbst. Gegen Leverkusens Fußballer Leon Bailey trat sie im Sprintduell an, erzählte im Zeitungsinterview von ei- ner abgelehnten Anfrage des „Playboy“und wettert gern öffentlich gegen die Dominanz des Fußballs in den Medien. Dann kann Gina Lückenkemper – ganz der Hulk – ziemlich wütend werden. Auf Instagram strahlt sie dagegen mit sich selbst um die Wette, als Kameramann muss öfter mal Trainer Uli Kunst herhalten. „Ich möchte keine Influencerin sein“, betont die Studentin der Wirtschaftspsychologie gern. Doch für ihren Sport ist sie längt eine der einflussreichsten Stars geworden.
Daran trägt Kunst gehörige Mitschuld. Der 68-Jährige hat sich mit dem Talent auch eine nicht immer einfache Athletin ans Bein gebunden. Auf Deutschlands Tartanbahnen kann Lückenkemper schier unglaubliche Energie entfesseln und positive Emotionen in die Sprints legen. Abseits davon braucht sie aber auch genug Ruhe und Abstand, den sie sich inzwischen oftmals bei ihrem Pferd „Picasso“sucht. Auch das ist eine typische Lückenkemper-Geschichte: Die Familie war erst skeptisch, Trainer Kunst riet ihr
aber dazu, das Tier zu kaufen. Inzwischen bezeichnet Lückenkemper ihren „Picasso“als „meinen Therapeuten“. „Wir sind beide irgendwie bescheuert“, sagt Kunst. Dass sein Schützling auf Anraten eines Neuroathletiktrainers vor Wettkämpfen an einer Batterie leckt oder mit dem rechten Arm rudert, lässt das für Außenstehende sehr plausibel erscheinen.
All das macht Lückenkemper natürlich nur noch interessanter, aber vielleicht auch gerade so stark. Bei den bevorstehenden Europameisterschaften in Berlin (7. bis 12. August) wird sie wieder die Hoffnungsträgerin sein. Für die 100 Meter und die entsprechende Staffel wurde sie vornominiert, wo eine Medaille am wahrscheinlichsten ist. „Ich bin stabil auf einem verdammt guten Niveau“, sagt Lückenkemper. Kunst betont: „In großen Wettkämpfen ist sie unglaublich emotional“– genau wie der Hulk.