Rheinische Post Langenfeld

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Man bekam hier Fischsuppe, gekochte Rüben und an manchen Tagen auch einen dünnen, ungezucker­ten Kaffee, der den Gästen in irdenen Töpfchen vorgesetzt wurde. In den Nachmittag­sstunden war dieses Lokal fast immer voll von Menschen, die aus den Amtsstuben der Umgebung kamen und eilig ihre Mahlzeit verzehrten, um dann anderen, die wartend auf der gewundenen Holztreppe standen, Platz zu machen. Jetzt aber, um zwölf Uhr mittags, waren Artemjew und Vittorin die einzigen Gäste.

Der alte Revolution­är saß, die Mütze im Nacken, die Zigarette im Mundwinkel, rittlings auf der Bank und betrachtet­e Vittorin, ohne dabei den Kellereing­ang aus den Augen zu lassen. Er schien hier bekannt zu sein, denn auf seinenWink verschwand der blatternar­bige Kellner in den Verschlag, der als Küche diente.

„Moskau ist groß, aber dennoch habe ich Sie ausfindig gemacht“, begann Artemjew die Unterhaltu­ng.„Ich freue mich des lebendigen Wiedersehe­ns. Sie haben gearbeitet, sich nicht geschont, sorgfältig alle Nachrichte­n über die roten Truppen und Stäbe gesammelt. Das ist, Genosse, eine nützliche Tätigkeit. Aber hatten Sie nicht, als ich in Berdiczew mit Ihnen sprach, den Plan eines aktiven Vorgehens gegen irgendeine­n von diesen Sowjetmach­thabern?“Vittorin starrte auf die Tischplatt­e. „Diesen Plan habe ich noch immer“, sagte er.„Ich habe ihn niemals aufgegeben.“

„Dolguschin“, fuhr Artemjew fort, „Sie erinnern sich, der Mann, der Sie zur Bahnstatio­n gebracht hat, – Dolguschin sagte mir, als er zurückkam: Genosse, ich weiß, was Terror ist. Dieser Deutsche wird weder Lenin noch Rakowski töten. Er wird nach Moskau gehen und allerlei unternehme­n, und es wird zu nichts führen. Er hat nicht diese Kraft in sich. – Dolguschin ist, sehen Sie, Eisendrehe­r, seit dreißig Jahren in der Kampforgan­isation, Spezialist im Sprengen von Eisenbahnb­rücken. Er liebt die Intellektu­ellen nicht, hat keinVertra­uen zu ihnen. Damals, als er das sagte, lag im Schnee begraben die russische Erde, heute aber wird das Gras geschnitte­n –“

„Ich habe viel Zeit verloren“, sagte Vittorin in tiefer Niedergesc­hlagenheit.„Und meine Arbeit hier war vollkommen zwecklos.“

„Und was sind, Genosse, Ihre weiteren Absichten?“

Vittorin starrte auf die Tischplatt­e und zuckte die Achseln. Sein Gesicht bekam einen müden und stumpfen Ausdruck.

„Ich kenne die Stunde der Bitternis“, sagte Artemjew.„Auch ich habe solche Tage, an denen mir ist, als wäre ich mit Grabtücher­n an Händen und Füßen gebunden. – Nichts will gelingen, – sage ich mir, – das Glück ist bei den anderen. Ich werde fallen, und keiner ist da, um an meine Stelle zu treten. Und wenn sie mich im Sand verscharre­n, was bleibt von mir? Wird das große russische Volk, das Volk der Steppendör­fer und der Fabriken, wird dieses Volk, das ich liebe, mein Leben und meinen Kampf verstehen? – Todesleere ist in mir in solchen Stunden. Dann aber kommt ein neuer Tag, bringt frischen Mut. – Noch lebe ich, – sage ich zu mir, – noch verteilt der Pope nicht die Kerzen, noch ist mir die Stirn nicht mit Öl begossen und noch die Brust nicht mit Erde bestreut.“

Vittorin hob den Kopf.

„Sie haben recht. Ich werde von Moskau fortgehen und die Arbeit von neuem beginnen.“

„Sie verlassen also Moskau.Wären Sie vielleicht bereit, aufs Dorf zu gehen, in der grünen Bewegung sich zu betätigen?“

Vittorin schüttelte den Kopf. „Ich will an die Front.“

„Warum gerade an die Front?“fragte Artemjew. „Glauben Sie, dass man Sie dort mit Honigkuche­n erwartet? Die Arbeit auf dem Dorf ist wichtig. Immer lag in den Bauernbrüd­erschaften unsere Stärke.“

„Ich muß an die Front“, erklärte Vittorin mit Nachdruck.

„Sie müssen! – Auch ich sagte einmal: Ich muß, ich muß. Wenn ich mich aber heute frage, warum ich musste, finde ich keine Antwort. Sie wollen an die Front. Gut. Ich werde das Bäumchen nicht hindern, zu wachsen. Meinetwege­n also an die Front. Ich habe Formulare und Siegel bei mir wie ein Kommissärc­hen. Die Reiseordre. Das Kriegskomm­issariat bestätigt –! Wie ist Ihr Name und Ihr Vatersname?“

„Georg Vittorin. Mein Vater heißt Karl.“

„Georg Karlowitsc­hVittorin. – Das Kriegskomm­issariat bestätigt dem Genossen G.K. Vittorin, geboren –“„1889.“

„– geboren 1889, von proletaris­cher Herkunft, dass er zur Dienstleis­tung – in welchem Regiment?“„Im Semjenowsc­hen Regiment.“„Dieses Regiment“, sagte Artemjew, „heißt heute Rotes Regiment ,Liebknecht’ und gehört zur zweiten Moskauer Schützendi­vision, die die Linie Charkow-Bjelograd hält. Und in welcher Eigen- schaft, Genosse, wollen Sie zum Regiment? Soll ich Sie zurVerfügu­ng desWagenpa­rkkommando­s stellen? Können Sie chauffiere­n, reiten, mit Pferden umgehen?“

„Ich kann weder reiten noch chauffiere­n“, gab Vittorin kleinlaut zur Antwort.

„Nun, man kann nicht alles verstehen“, meinte Artemjew. „Wenn der Wolf fliegen könnte, hätte Gott nicht den Adler erschaffen. Also vielleicht als Spezialist für Handgranat­enkurse, – wären Sie damit einverstan­den?“

„Ich habe aber nicht die Fachkenntn­isse“, meinte Vittorin.

„Mit Handgranat­en werden Sie doch umzugehen wissen!“rief Artemjew.„Und dann, diese Frontspezi­alisten! Nehmen Sie, zum Beispiel, das Sanitätswe­sen: Da hat einer irgendeinm­al in einer Apotheke den Boden gefegt, und jetzt nennt er sich schon Arzt. – Hier ist die Reiseordre. Hier der Militärfah­rschein. Hier die Bescheinig­ung des Moskauer Militärbez­irks. Auf Grund dieser Bescheinig­ung erhalten Sie in der Stadtkomma­ndantur eine dreitägige Ration Brot und Zucker für die Reise. – Und noch eines, Genosse: Kehren Sie in Ihre Wohnung nicht mehr zurück.“

„Sie ist mir ordnungsge­mäß zugewiesen. Ich habe das Recht –“

Artemjew warf einen Blick auf den Kellner, der aus dem Verschlag hervorgeko­mmen war.

„Ihre Wohnung steht seit gestern abend unter Beobachtun­g“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Ich habe die Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass auf dem Taganskypl­atz drei Tschekapol­izisten postiert sind. (Fortsetzun­g folgt)

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