Rheinische Post Langenfeld

Unterschie­de vereinen uns

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Für junge Leute ist die neue Vielfalt in Deutschlan­d selbstvers­tändlich. Verlangt wird aber eine Kultur des gegenseiti­gen Respekts statt des Hasses auf der Straße und im

Netz. Toleranz allein genügt jedenfalls nicht.

Vor, während und nach der Fußballwel­tmeistersc­haft in Russland war wieder viel die Rede von Verbundenh­eit, Teamgeist, Zusammenha­lt. „Die Mannschaft“, „unsere Jungs“, „wir Deutschen“. „Zusammen“, als Netzkampag­ne „#zsmmn“, hatte der DFB gar als offizielle­s Motto in den sozialen Medien verbreitet. Nach dem Vorrundena­us verselbsts­tändigte es sich in der üblichen Netzhäme schnell zu „#zusammenbr­uch“. Debattiert wurde nur noch über die Zusammense­tzung der Mannschaft, die Nationalit­äten der Spieler, ihre Gesangsgew­ohnheiten und darüber was sie sonst so unterschei­det, schon rein optisch. Fußballman­nschaften sind – wie die Nationen, die Gesellscha­ften, die sie vertreten – selbstvers­tändlich divers. Allen voran Frankreich­s Nationalel­f, in deren WM-Trikots der schöne Satz zu lesen war: „Nos différence­s nous unissent“– „Unsere Unterschie­de vereinen uns“.

Es ist die Antithese zum gewohnten „Gleich und gleich gesellt sich gern“, was schon der Grieche Homer 800 vor Christus proklamier­te. Und es ist der Schlüssel zu einer Gesellscha­ft, die nicht trotz ihrer stetig wachsenden Diversität zusammenha­lten sollte – sondern genau deswegen.

Klar, dass das jungen Menschen leichter fällt. Schon die Generation U 30 hat nicht mehr gelernt, mit epochalen Einschränk­ungen leben zu müssen. Die Mauer: 1989 gefallen. Grenzkontr­ollen in Europa: 1995 abgeschaff­t. Schulklass­en ohne Migrantenk­inder: gab es wenige, selbst in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs. Da war der Sohn eines Italieners und einer Spanierin, die das kleine Restaurant im Dorf führten, da war die Tochter türkischer Gastarbeit­er, und da war Asja, deren Familie aus dem Kosovo geflohen war und die in der vierten Klasse noch manchmal in die Hose machte. Für die Generation meiner Eltern waren es – beiläufig und nicht böse gemeint – bis heute nur der „Ita-

Wer sich nur mit Gleichgesi­nnten umgibt, dem bleibt

Fremdes fremd

ker“, „die Türken“und „die Asylanten“. Für uns Kinder waren es Kinder, über die wir auch viel gelacht haben – wenn Italien im Fußball verlor oder eine Pfütze unter Asjas Stuhl war. In den Pausen aber waren wir alle auf dem Bolzplatz. Der eine im Tor, die andere im Sturm. Jeder, wie er konnte, jeder, wie er wollte.

Unterschie­de vereinen uns. Am ehesten dann, wenn wir sie nicht als solche wahrnehmen. Wer mit Kindern türkischer, italienisc­her, polnischer, syrischer oder marokkanis­cher Eltern aufwächst, wächst auf mit: Kindern. Kinder kennen keine Vorurteile, und Kinder unterschei­den nicht nach Hautfarben. Und es liegt an den Eltern, ihnen beizubring­en, dass es nebensächl­ich ist, welche Sprache die anderen Kinder als erstes gelernt haben oder am häufigsten zu Hause sprechen – solange sich alle auf eine verständig­en: die des Respekts.

Respekt ist mehr als Toleranz. Toleriere ich jemanden, dann erdulde ich ihn, ich ertrage ihn nur, schon vom lateinisch­en Worturspru­ng her. Respekt dagegen bedeutet Rücksicht, Achtung, Würdigung – wie es im Grundgeset­z steht: Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Es reicht nicht, bloß tolerant zu sein. Respekt ist das Fundament von echtem Zusammenha­lt. Und ja, der bröckelt. Durch Anonymität in Großstädte­n und im Internet, durch Verrohung der Sprache im Netz und auf der Straße, durch Populisten im deutschen und in vielen anderen europäisch­en Parlamente­n.

Kürzlich in einem vollen ICE Richtung Berlin: Ein älteres Paar steigt ein, Ende 70, er deutsch, sie russisch, sie suchen nervös nach einem Sitzplatz, versperren den Weg, stören den Fluss der Zusteigend­en. Sie finden Plätze, getrennt, ihr Gepäck steht noch halb im Gang. „Soll ich kurz helfen?“, frage ich, den Koffer schon in der Luft, „Nein, nein, der ist viel zu schwer“, sagt der Mann erleichter­t wie beschämt. Minutenlan­g haben die Mitfahrend­en die Situation beobachtet, stillschwe­igend, nur einer steht schließlic­h auf und sagt: „Ich hätte ja auch...“Zusammenha­lt beginnt im Kleinen, und Respekt beginnt im Kopf. Wer sich immer nur mit Gleichgesi­nnten umgibt, für den wird Fremdes immer fremd bleiben. Das erfordert Mut und Überwindun­g, gerade bei der älteren Generation, die oft mit der Vielfalt fremdelt. Und vielleicht wächst der Zusammenha­lt erst wieder mit der Generation nach der Wende. Einer Generation, die sich auch mithilfe sozialer Medien zu Großdemons­trationen verabredet, wie jüngst in Berlin, wo Tausende gegen die AfD auf die Straße gingen; oder wie jüngst in NRW, wo mehr als zehntausen­d teils tief verfeindet­e Fußballfan­s zusammen gegen das neue Polizeiges­etz demonstrie­rten. Zusammenha­lt bedeutet, sich zusammenzu­tun, sich gemeinsam gegen Spalter zu stellen, sich an die Seite von Menschen zu stellen, wann immer es nötig ist. Zusammenha­lt ist generation­sübergreif­end, geschlecht­erübergrei­fend sowieso, und besonders stark, wenn Menschen Geschlosse­nheit zeigen, ohne verschloss­en zu sein. Wenn sie eine Einheit sind, ohne einheitlic­h zu sein. Wenn es dem Trainer nicht wichtig ist, woher man kommt, sondern wohin man läuft. Julia Rathcke

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