Dienstpflicht für alle?
PRO UND CONTRA Sieben Jahre nach der Aussetzung der Wehrpf licht hat die Union erneut ein Pf lichtjahr für alle ins Gespräch gebracht. Der Vorschlag stößt auf freudige Zustimmung wie auf strikte Ablehnung.
Ein Comeback eines verpflichtenden Jahres bei der Bundeswehr oder wahlweise im sozialen Dienst wäre begrüßenswert. Die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung eines Freiwilligen Sozialen Jahres waren meiner Meinung nach ein schwerwiegender und unnötiger Fehler, den es zu korrigieren gilt. Sowohl die Bundeswehr als auch die sozialen Einrichtungen, die von den Zivildienstleistenden unterstützt wurden, leiden unter dieser Entscheidung. Es ist ein romantischer Gedanke, dass man nach der Schule freiwillig ein Jahr für die Allgemeinheit dranhängt, wenn man direkt in den Beruf starten oder durch die Welt reisen kann. Zwar machen es dennoch viele freiwillig, aber bei Weitem nicht so viele, wie benötigt werden. Und selbst einige derjenigen, die sich für die Teilnahme am Bundesfreiwilligendienst entschieden haben, bereuten diesen Schritt. Fast 100.000 Bufdis, so nennt man die Teilnehmer, quittierten nach Angaben der Bundesregierung den Dienst seit der Einführung im Jahr 2011 – und damit mehr als ein Drittel. Ein Erfolgsmodell sieht anders aus.
Überall fehlt es an Personal. Bei der Feuerwehr, bei den Rettungsschwimmern, in Altenheimen, in Krankenhäusern. Und die Bundeswehr ächzt unter Rekrutenmangel. Die jährlichen 700.000 Schulabgänger in Deutschland könnten einen Teil dieser Lücke schließen, so wie sie es bis zur Abschaffung des Pflichtjahres gemacht haben. Und diesmal könnten es noch mehr sein als früher. Denn so ein Pflichtjahr dürfte nicht mehr länger nur für das männliche Geschlecht gelten. Schon aus Gründen der Gleichberechtigung müssten nun auch die Frauen verpflichtet werden. Denn während Frauen bei der alten, abgeschafften Regelung nach Beendigung der Schule ins Berufsleben durchstarten konnten, wurden die Männer ausgebremst durch den Wehrdienst, den sie – bis auf Ausnahmen – erst einmal absolvieren mussten.
Geschadet hat der Dienst aber niemanden – pauschal gesagt. Im Gegenteil: Die Zeit bei der Bundeswehr kann den Charakter stärken. Zum ersten Mal von zu Hause weg. Keine Eltern mehr, die einen rund um die Uhr versorgen. Stattdessen früh aufstehen, Spind aufräumen, Bett machen, Flur wischen und Toiletten putzen. Man lernt, sich in einer Gruppe zurechtzufinden. Ähnliches gilt für den Zivildienst. Eltern dürften kaum etwas dagegen haben, wenn ihre Tochter oder ihr Sohn nach der Schulzeit ein Jahr lang etwas für die Allgemeinheit tut – statt „Work and Travel“zu machen, also sich mit Gelegenheitsjobs in fernen Ländern finanziell über Wasser zu halten. Und was ist schon ein Jahr als junger Mensch, wenn man das ganze Leben noch vor sich hat?
Wer sich ein Jahr für den Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet, egal ob im Seniorenstift oder in der Betreuung schwer erziehbarer Jugendlicher, verdient höchsten Respekt. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, die Zeit zwischen Schule und Beruf zu unterbrechen und in eine ganz andere Welt hineinzuschauen. Deshalb ist ein soziales Jahr oder ein Freiwilligendienst bei der Bundeswehr eine gute Sache. Sie sollte allerdings ohne Zwang geschehen.
Der Staat muss schon sehr gute Gründe haben, wenn er die Bürger verpflichtet, eine Zeit ihres Lebens in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Dazu gehört eine außergewöhnliche Gefahrenlage durch eine Bedrohung wie im Kalten Krieg oder eine nationale Katastrophe wie eine Epidemie oder ein Naturereignis. Beides ist gegenwärtig nicht gegeben. Trotz der Zunahme der Spannungen mit Russland besteht keine Gefahr eines unmittelbaren Angriffs. Umweltereignisse wie Überschwemmungen, Dürren oder Stürme haben unsere technischen Einrichtungen wie Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk oder das Rote Kreuz im Griff. Mitarbeit ist hier will- kommen, darf aber nicht befohlen werden. Wenn diese Dienste finanziell zu knapp gehalten werden, muss der Staat mehr dafür ausgeben und andereWohltaten einschränken.
Natürlich tut es jungen Leuten gut, einmal mit einer anderen sozialen Realität konfrontiert zu werden, mal mit ihren Händen mitzuhelfen. Aber von einer Verpflichtung dazu hat niemand etwas. Es ist ein schwerwiegender Eingriff in die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die das Grundgesetz als besonders schutzwürdiges Gut ansieht. Es ist zudem auch wenig sinnvoll, sich bei der Altenpflege, der Feuerwehr oder der Förderung von Behinderten auf Laien zu verlassen, wenn Profis mit Kompetenz und Herz zur Verfügung stehen. Wollen wir wirklich unsere Senioren missmutigen jungen Leuten anvertrauen, die dazu per Gesetz verpflichtet wurden?
Eher umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Staat sollte solche Dienste fördern, etwa durch Vergünstigungen im Nahverkehr, durch Rentenpunkte oder eine kürzere Wartezeit beim Medizinstudium. Wer als Facharbeiter, Angestellter oder Freiberufler seine Steuern zahlt und gute Arbeit leistet, trägt seinen Anteil zu einer intakten Gesellschaft bei. Wer mehr leisten will, ist herzlich dazu eingeladen. Aber der Pflichtbeitrag zur Gemeinschaft ist über die Zahlung von Steuern, Befolgung der Gesetze und die Beteiligung am öffentlichen Leben wie Wählen abgegolten. Ein darüber hinausgehender Zwang passt nicht zu einer freiheitlichen Ordnung, die jedem die Wahl lässt, das zu tun, was er oder sie als sinnvoll erachtet.