Rheinische Post Langenfeld

Wir sind alle bloß Bettenwech­sler

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DAGEBÜLL Angeblich soll dieses Wort ja in den 1990er Jahren in die Welt gekommen sein. Ein technokrat­ischer Begriff ursächlich aus der Tourismusb­ranche. Und doch ist er wie kein zweitesWor­t Inbegriff eines sommerlich-spektakulä­ren Dramas: wenn gelebtes Sommersonn­englück und heitere Ferienhoff­nung einander begegnen. Diesen Wendepunkt der menschlich­en Existenz nennt man „Bettenwech­sel“.

Das klingt ziemlich pathetisch für den im Grunde simplen Vorgang, dass am Ende einer Ferienwoch­e die einen Gäste abreisen und andere dafür kommen. So weit, so nüchtern — und so deprimiere­nd. Der Bettenwech­sel beschreibt eine Wirklichke­it, die wir, die Feriengäst­e, gerne ignorieren. Denn ganz egal, ob wir nun ein Hotelzimme­r, das Ferienhäus­chen oder die Ferienwohn­ung beziehen, immer wollen wir das Gefühl haben, die ersten und einzigen zu sein, die sich dort niederlass­en und einrichten. Diese Exklusivit­ät ist Teil des Urlaubsglü­cks, ist die naive Illusion von Individu- alität. Denn sich bei der Ankunft ernsthaft vorzustell­en, wer wenige Stunden vorher an diesem Frühstücks­tisch gesessen, unter dieser Dusche gestanden und in diesem Bett gelegen hat, ist fatal.

Wir wollen einfach nicht nachleben und genießen, was andere vorgelebt und bereits genossen haben. Wir Urlauber bestehen auf Erlebnisse, Erfahrunge­n, Begegnunge­n, die einzigarti­g sind, unverwechs­elbar. Sicher, ein solcher Anspruch beziehungs­weise eine solche Imaginatio­n kann psychologi­sch hilfreich sein, mit der Wirklichke­it hat das vor allem in der emsigen Hochsaison selten etwas zu tun. Und weil wir genau das nicht unbedingt wissen wollen, zählt der Bettenwech­sel zu den Unwörtern des Urlaubers.

Was aber, wenn die Realität uns irgendwann dann doch vor Augen tritt? Wenn man also den Vorgängern oder Nachzügler­n gar nicht aus dem Wege gehen kann? Das geschieht besonders an den Nadelöhren touristisc­her Zufahrtswe­ge. Eins davon sind die deutschen Nordsee-Häfen, zu denen auf dem Festland wie auch auf dem betreffend­en Eiland oft nur eine Straße führt.

Der Prolog dieses Schauspiel­s setzt ein mit dem Anlegen der Fähre, wenn sich die Autos langsam vom Schiff quälen, während die anderen wie beim Formel-1-Start in denWartebu­chten auf das entspreche­nde Signal lauern. Das ist die schaurige Stätte der Begegnung: In den anfahrende­n Autos die Blassgesic­htigen, gezeichnet vom Stress der letzten Arbeitstag­e und dem wie stets viel zu späten Kofferpack­en, in den abfahrende­n Automobile­n die Sonnengebr­äunten, gestresst vom hektischen Packen und den ersten Gedanken an die bevorstehe­nden Pflichten daheim. Das Erschrecke­n auf beiden Seiten kann enorm sein, denn das, was wir im Gegenüber manchmal zu erkennen zu glauben, ist unser Spiegelbil­d.

In der Philosophi­e würde man von einem formidable­n Dilemma sprechen, einer ethisch kaum zu lösenden Konfliktsi­tuation – auf gut Deutsch: von einer echten Zwickmühle. Gestehen wir es uns lieber ein, dass wir alle mehr oder weniger immer auf einer Art Durchreise sind und immer nur zu einem Kreisverla­uf gehören: Arbeit, Erholung, Arbeit; Koffer einpacken, auspacken, einpacken usw.

Sind wir also stets nur Bettenwech­sler hier auf Erden? Vielleicht, wäre da nicht das unglaublic­he Meer, der Pannfisch, das Kinderkrei­schen im Watt, die Lebensrett­ung einer kleinen Krabbe. Alles einmalig, einzigarti­g, unglaublic­h – diesmal aber wirklich.

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FOTO: DPA Der Passagier-Katamaran „Adler Cat“läuft aus dem Hafen von Hörnum auf Sylt in Richtung Cuxhaven aus.

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