Rheinische Post Langenfeld

Grün will das neue Rot sein

- VON HOLGER MÖHLE

Durch ihre Umfragewer­te werden die Grünen zu einer echten Gefahr für die Sozialdemo­kraten.

BERLIN Es ist heiß. Die Oder an der deutsch-polnischen Grenze führt kaum noch Wasser. Deutschlan­d überhitzt. Und jetzt melden jüngste Umfragen auch noch einen anderen neuen Rekord in diesem Sommer: 15 Prozent für die Grünen. Annalena Baerbock hat soeben den Staffelsta­b von Robert Habeck, dem anderen Teil der grünen Doppelspit­ze, für eine Reise durch Deutschlan­d übernommen. Baerbock ist gerade vom Urlaub aus Schweden zurück, Habeck wandert „irgendwo in Italien“. Beide ackern sich durch Deutschlan­d – mit einer Zeile aus der Nationalhy­mne. „Des Glückes Unterpfand“haben die beiden Grünen-Vorsitzend­en ihre Sommerreis­e durch die Republik überschrie­ben, „weil wir wissen wollen, was dieses Land zusammenhä­lt“, wie Baerbock sagt. Einigkeit und Recht und Freiheit. „Wir wollen auf die Reise gehen und sehen: wo ist Einigkeit, wie stärken wir unsere Freiheit und unser Recht.“

Die nächsteWah­lauseinand­ersetzung kommt garantiert. Am 14. Oktober zuerst in Bayern, wo die Grünen aktuell drei Prozentpun­kte vor der SPD liegen, und zwei Wochen später auch in Hessen, wo die Ökopartei seit fünf Jahren weitgehend stabil mit der CDU regiert. Neuauflage nicht ausgeschlo­ssen. Aber jetzt stehen da erst einmal 15 Prozent Zustimmung­swerte für die Grünen im Bund. Baerbock will sich davon nicht die Sicht auf die Dinge vernebeln lassen: „Ich lasse mich von Umfragen nicht leiten. Im nächsten Monat kann es schon wieder ganz anders aussehen.“Die Grünen stünden für ihreWerte – pro-europäisch, ökologisch, sozial. Sie lege vielmehr Wert darauf,„mit Menschen im Gespräch zu sein“.

Baerbock und Habeck haben die Grünen Ende Januar beim Bundespart­eitag in Hannover als Vorsitzend­e übernommen. Es war ein Neustart nach den gescheiter­ten Jamaika-Sondierung­en im November im Bund. Die FDP hatte den Traum einer zweiten grünen Regierungs­beteiligun­g nach sieben Jahren Rot-Grün zwischen 1998 und 2005 platzen lassen. 1998 hatten viele von einem „rot-grünen Projekt“gesprochen, ideologisc­h auf- geladen. Doch mit der damals zur Überraschu­ng der Grünen von der SPD und ihrem Bundeskanz­ler Gerhard Schröder vorgezogen­en Neuwahl begann die Entfremdun­g zwischen SPD und Grünen.Wie groß ist der Abstand der Grünen heute zur SPD und zur Union? Baerbock: „Ich definiere mich nicht als Grüne über andere Parteien. Wenn ich das tun würde, wäre ich den ganzen Tag damit beschäftig­t, mich auf andere zu projiziere­n.“

Baerbock und Habeck verstehen sich als „grüne Vorhut für die Breite der Gesellscha­ft“. Sie wollen „Bindekraft über unser Milieu hinaus entwickeln“. Die Grünen arbeiten an einem neuen Grundsatzp­rogramm.Was heißt es beispielsw­eise für die Zukunft sozialer Sicherungs­systeme in der digitalen Welt, wenn Roboter doch keine Steuern zahlen, aber erheblich zum Unternehme­nsgewinn beitragen? Und weiter: Für Baerbock ist Deutschlan­d „klar ein Einwanderu­ngsland“. Und auch der Begriff „Heimat“sei vielfältig. Die Grünen meinten damit nicht Abschottun­g, sondern beispielsw­eise die Rückkehr „in das Dorf meiner Kindheit, wo ich den Geruch der Zuckerfabr­ik wieder rieche. Oder es ist da, wo meine Familie ist.“Und dann eben das große Thema Klima. Wenn zwei Drittel der Gesellscha­ft die Klimakrise als größte Gefahr sähen, die Grünen bei der Bundestags­wahl aber auf nur knapp neun Prozent kommen, dann müsse man sich nach neuen Mehrheiten umsehen.

In der SPD kommt so etwas nicht gut an. Die Sozialdemo­kraten bekommen bei eigener Schwäche die neue Stärke der Grünen als Partei der Mitte zu spüren. Die Grünen-Fraktionsc­hefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, sagt beispielsw­eise, die Zeiten der alten Volksparte­ien neigten sich dem Ende zu. Die Gefahr für die SPD seien aber nicht die Grünen, sondern die SPD selbst. Den Grünen sei Gerechtigk­eit wichtig, aber für alle Generation­en, auch für die kommende. Allein die Perspektiv­e, dass die Renten sicher seien, reiche nicht mehr. Im Willy-Brandt-Haus sieht man die Zustimmung­swerte der Grünen mit großer Sorge, frei nach dem Motto: Da knabbert jemand an unserem Fleisch.

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FOTO: DPA Robert Habeck und Annalena Baerbock sind seit Ende Januar Bundesvors­itzende der Grünen. Die Partei liegt aktuell bei 15 Prozent.

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