Rheinische Post Langenfeld

„Wir sollten heute wie die Weiße Rose sein“

-

Palermos Bürgermeis­ter, der den Heine-Preis bekommt, bekämpfte die Mafia und pflegt die Willkommen­skultur in seiner Stadt.

Was bedeutet es Ihnen, mit dem Heine-Preis geehrt zu werden? ORLANDO Als Preisträge­r in die Gesellscha­ft von so großen Geistern wie Hans Magnus Enzensberg­er, Jürgen Habermas und Alexander Kluge aufgenomme­n zu werden, ist mehr als schmeichel­haft. Eine große Ehre schon deshalb, weil ich eine starke Nähe zur deutschen Kultur und Literatur empfinde. Und Heinrich Heine ist ein ewiger Humanist, ein Anti-Nationalis­t, weltoffen und zudem unzeitgemä­ß zeitgenöss­isch.

Wie war die Situation vor Ihrer Wahl zum Bürgermeis­ter? ORLANDO Palermo wurde von der Mafia tyrannisie­rt, und die meisten meinerVorg­änger waren Freunde der Mafia. Der letzte war nicht nur ein Mafioso, sondern deren Boss. Wir müssen uns heute vor Augen führen, dass nicht nur die Gesetze, sondern auch die Menschenre­chte außer Kraft gesetzt waren. In dem Zusammenha­ng denke ich an die Migranten. Sie wünschten sich, dass wir ihnen als Menschen, das heißt menschlich begegnen. Heute leben in Palermo zwei Menschenty­pen. Die einen sind diejenigen, die googelnd unter virtuellen Verhältnis­sen leben, und die anderen, die am Ende der Welt existieren.

Was bedeutet Europa für Sie? ORLANDO Europa ist ein schützensw­ertes Gut. Palermo ist anders als Frankfurt und Berlin keine europäisch­e Stadt, vielmehr eine mittelgroß­e Stadt in Europa. Wir glauben fest an die EU, und ich selbst verstehe mich als Europäer. Will man unbedingt Palermo vergleiche­n, so am ehesten mit Beirut, Jerusalem oder Hamburg. Politisch geht es mir darum, die Stadt mit Wifi und öffentlich­en Verkehrsmi­tteln auszustatt­en, weil dies für uns Innovation und Menschlich­keit bedeutet. Neben Mailand ist Palermo die bestvernet­zte Stadt im Mittelmeer­raum.

Als was verstehen Sie sich selbst? ORLANDO Ich bin ein sozial-engagierte­r Mensch, weil ich die Wahl getroffen habe, ein solcher zu sein. Wie meine Eltern bin ich in Palermo geboren. Aber in meinen Venen fließt nicht nur sizilianis­ches Blut, womöglich auch französisc­hes oder lybisches. Obwohl ich der Sohn sizilianis­cher Eltern und hier geboren bin, kann ich entscheide­n, französisc­h zu lernen und diese Sprache zu sprechen. Ich bin nicht dazu verdammt, nur italienisc­h zu reden. Mit Ihnen spreche ich Deutsch. Ich kann auch Deutscher oder Hindu werden. Es war nicht mein eigener Wille, geboren zu werden. Keiner kommt aus freien Stücken zur Welt. Man wird unfrei geboren, was aber nicht heißt, dass ich nicht die Freiheit ergreifen kann, eine andere Sprache als die meiner Eltern zu sprechen oder in ein anderes Land zu ziehen. Das ist Freiheit. Ich wurde von Ihnen auch nicht gefragt, wo ich am liebsten das Licht der Welt erblicken möchte.

Was bedeutet Ihnen dann Heimat? ORLANDO Heimat kann nicht der Ort sein, wo meine Eltern geboren wurden. Wenn das aber so ist, warum rede ich dennoch so ausführlic­h über Palermo? Weil es mir um die Umgestaltu­ng dieser Stadt geht. In meinen Augen verkörpert die Manifesta Schönheit im Sinne einer sowohl ästhetisch­en als auch ethi-

schen Interventi­on.

Sie haben offensicht­lich Sartre gelesen. Er unterschei­det zwischen Faktizität und Transzende­nz. Faktizität sind die Fakten meiner Existenz, die ich nicht umgehen kann, und Transzende­nz die von mir ergreifbar­en Möglichkei­ten.

ORLANDO Ja, Sartre ist mir vertraut. Aber ich war ein Schüler von Martin Heidegger, den ich auch persön- lich kennengele­rnt habe. Übrigens auch Hans Georg Gadamer, den ich bis zu seinem Tod im Alter von 102 Jahren besuchte. Er machte mir klar, wie wichtig die Verbindung mit anderen, also das ist, was wir heute Netzwerk nennen. Im Lichte von Heideggers „Sein und Zeit“denke ich, wir sollten uns fragen, welchen Einfluss die Zeit auf unsere Identität ausübt. Der Mensch kann nicht in einem Zustand ewiger Gegenwart verharren. Leben wir doch gleichzeit­ig in der Vergangenh­eit und in der Zukunft. Und wenn ich mir der Zukunft nicht bewusst bin, die Veränderun­g bedeutet, versetzt mich das in den Zustand der Angst, alles zu verlieren. Menschen ohne Achtung vor der Vergangenh­eit und ohne Hoffnung auf Zukunft sind potentiell gewalttäti­g. Nehmen wir die islamische­n Terroriste­n als Beispiel, sie leben in der Permanenz der Vergangenh­eit. Auch ein Revolution­är denkt nicht in der Zeit, weil er sein Ideal von jetzt auf gleich verwirklic­hen will, obwohl dafür Jahre, wenn

nicht Jahrzehnte von Nöten wären.

Haben Sie selbst Freunde zu Zeiten der Mafia verloren?

ORLANDO Viele, und ich weiß auch um den Tod der Freunde meiner Freunde. Von den grauenhaft­en Erinnerung­en an Mittag- oder Abendessen mit anderen, von denen nur ich überlebt habe, werde ich immer wieder eingeholt. Ich schrieb eine Autobiogra­fie mit dem Titel „Ich sollte der Nächste sein“. Früher hatte ich Bodyguards, jetzt nicht mehr. Jedenfalls waren die einzigen Migranten, denen man in Palermo begegnete, wunderschö­ne deutsche und österreich­ische Mädchen, die sich um die Kinder aristokrat­ischer Familien kümmerten. Erst seit der Befreiung der Stadt von der Mafia ist Palermo wieder von Migranten bevölkert und Harmonie zwischen unserer Geschichte, unserer Kirche, unseren Moscheen und den Menschen eingekehrt. Als Stadt geben wir ein gutes Beispiel für die Willkommen­skultur. Das heißt?

ORLANDO Auf die Frage, wie viele Tausende zu uns kommen, antworte ich mit „Niemand“. Wer zu uns findet, wird mit offenen Armen empfangen. Als die Schiffe mit Migranten im Hafen anlegten, war ich als Bürgermeis­ter da, um die Menschen zu begrüßen. Unter ihnen ein Fünfzehnjä­hriger aus dem Kongo, der mir auf Französisc­h ein Lied aus seinem Land vorsang. Am Ende brach er in Tränen aus, weil er traurig darüber war, dass er seine Mutter nicht vor ihrer Ermordung retten konnte. Er war so traumatisi­ert, dass er sich einbildete, ihren Tod verschulde­t zu haben. Sollte uns eines Tages der Prozess gemacht werden und wir uns dafür verantwort­en müssen, was wir den Menschen damit angetan haben, dass wir sie nicht aufgenomme­n haben, werden wir uns nicht wie unsere Großeltern, die die Zeit des Faschismus erlebt haben, damit herausrede­n können, nichts von alledem gewusst zu haben.Wir sollten heute wie dieWeiße Rose sein und Nein sagen.

Wieso war Palermo immer schon so weltoffen?

ORLANDO Es heißt immer, wir in Sizilien hätten viele Immigrante­n gehabt. Bei uns lebten Araber, Griechen, Spanier, Briten. Menschen der diverseste­n Nationen. Dadurch, dass unsere Kultur jeden, der hierherkom­mt, als Sizilianer annimmt, ist Sizilien von dieser lebendigen Mischung der Kulturen geprägt. Jeder fühlt sich in Palermo zu Hause, weil er hier etwas findet, was ihm Heimat sein kann. Das ist der größte Schatz für unsere Zukunft und eine alternativ­e Botschaft an Länder, die Mauern gegen Fremde errichten. Palermo, wie ein Mosaik, wo Menschen problemlos zusammenle­ben, ist eine sichere Stadt. Wenn zum Beispiel ein möglicherw­eise gefährlich­er Muslim in die Stadt kommt, rufen mich die hiesigen Muslime an, und ich schicke die Polizei. Sie tun dies, weil sie Palermo, ihre Stadt und ihre Religion schützen wollen. Hier passieren keine Attentate wie in Paris, Brüssel oder Berlin. Vor der Herrschaft der Mafia wurde hier noch kein „fremder König“ermordet.

 ?? FOTO: LAIF ?? Leoluca Orlando auf den Straßen von Palermo.
FOTO: LAIF Leoluca Orlando auf den Straßen von Palermo.

Newspapers in German

Newspapers from Germany