Rheinische Post Langenfeld

Erzähl doch mal von früher

- VON DOROTHEE KRINGS

Womit hat Opa als Junge gespielt? Wovon hat Oma als junge Frau geträumt? Von früher zu erzählen, ist nicht mehr selbstvers­tändlich. In vielen Familien fehlt es an Zeit, Nähe – und manchmal auch Gelegenhei­t. Dabei sind die Erfahrunge­n der Älteren ein Schatz, der sich nicht ewig heben lässt.

Zum Glück gab es diesen Schuhkarto­n. Fotografie­n aus dem Leben der Großeltern lagen darin, ungeordnet, unbeschrif­tet, die meisten in Schwarz-Weiß. Kinder mit übergroßen Haarschlei­fen in Hinterhofg­ärten waren darauf zu sehen, steife Hochzeitsb­ilder aus düsteren Ateliers oder – auf dem Lieblingsb­ild – eine Frau mit weißem Haardutt, gutmütigem Gesicht, verschränk­ten Armen in einem Schaukelst­uhl mitten auf der Straße. Nur die Oma kannte die Namen der Menschen, kannte ihre Geschichte­n und hat sie erzählt, wenn die Enkel wieder bei ihr übernachte­n wollten. Dieses Ritual war wichtig, denn für Geschichte­n aus der Familie braucht es Zeit, Bettwärme, ein bisschen Schläfrigk­eit. Es braucht Intimität zwischen den Generation­en.

Doch als die Oma starb, waren viele Geschichte­n nicht erzählt. Wo lag er eigentlich genau, der Bauernhof, auf dem sie aufgewachs­en war? Was hatte sie als Kind gespielt, wovon als junge Frau geträumt, was war die Enttäuschu­ng ihres Lebens? Man hätte noch so viel fragen können – fragen müssen, um versöhnter zu sein mit der Gewissheit, dass mit dem Tod von Menschen auch deren Geschichte­n sterben. Ihr Wissen über eine Zeit. Und ihr Empfinden.

Es ist ein Paradox in vielen Familien: Gerade mit den Menschen, die einem besonders nahe stehen, redet man wenig über das, was einmal deren Alltag ausgemacht hat. Man fragt nicht nach dem Nebensächl­ichen, den Details und Unscheinba­rkeiten, die ein Leben doch ausmachen. Die den Erinnerung­en Lebendigke­it geben. Oft genug fragt man auch nicht nach dem Einschneid­enden, das den Weg eines Menschen gelenkt haben mag, aber womöglich schmerzlic­h war. Man ist ja so beschäftig­t mit der Gegenwart, mit all den Dingen, die anstehen, erledigt werden müssen – und von dem ablenken, was eigentlich besprochen werden sollte. Damit man weiß, woher man kommt.

Familienfe­ste sind eine gute Gelegenhei­t, den Dialog zwischen den Generation­en zu beginnen. „Man kann dann ganz unbekümmer­t die Wie-war-das-eigentlich-genau-Fragen stellen“, sagt Sabine Bode. Sie hat mit Büchern wie „Kriegskind­er“jene Generation zum Sprechen gebracht, die während des Zweiten Weltkriegs noch nicht erwachsen war. Traumatisi­erte Kinder, doch davon wollte in den Aufbaujahr­en niemand etwas wissen.

So lernte die Generation der in den 1930er und 1940er Jahre Geborenen, über die eigenen Verletzung­en zu schweigen, lieber die Ärmel aufzukremp­eln, an der Zukunft zu arbeiten, um nicht über die Vergangenh­eit nachdenken zu müssen. „Das Familienge­spräch, bei dem ohne besondere Anlässe einfach von früher erzählt wird, ist in Deutschlan­d 1945 abgebroche­n“, sagt Bode, „das Erlebte war so katastroph­al, dass die Menschen lieber überhaupt nicht zurückgegu­ckt haben, nicht auf das Schlimme, auch nicht auf das Rettende.“Einzig in manchen Familien, die eine Flucht überstehen mussten, seien die Umstände Thema gewesen, dann aber oft auch nichts anderes als die Flucht.

Nun werden die Kriegskind­er alt. In den eigenen Erinnerung­en wird das, was lange zurücklieg­t, stärker und stärker. Und mit den Kindheitse­rinnerunge­n wird auch das Bedürfnis zu erzählen wach. „Die Kriegskind­er nehmen den Ge- sprächsfad­en zwischen den Generation­en wieder auf“, sagt Bode. Viele Menschen aus diesen Jahrgängen haben auch den Drang zu schreiben, verfassen Lebenserin­nerungen, publiziere­n Autobiogra­fien im Selbstverl­ag oder befassen sich mit der erlebten Geschichte ihrer Stadt. „Die Menschen wollen Zeugnis ablegen von dem, was sie erlebt haben“, sagt Bode, „sie haben wenig Beachtung erfahren – auch in ihren Traumata – doch nun wollen sie ihre Erlebnisse weitergebe­n.“

Natürlich entstehen so auch Familienle­genden: Menschen deuten die Vergangenh­eit um, erinnern sich so, dass das Geschehene in ihr Selbstbild passt. Und in das Bild, das die Familie von ihnen hat. Die verdrängte­nWahrheite­n solcher Familienle­genden können negative Wirkung entfalten. Das lässt sich nur beenden, wenn die nachfolgen-

Ulrich Kühnen, de Generation nachfragt, auch auf eigene Faust nachforsch­t, um ein wahrhaftig­es Bild der Familienge­schichte zu erhalten.

Die Kinder der Kriegskind­er und deren Kinder dürften es leichter haben, unbefangen aus den eigenen Biografien zu erzählen. Obwohl jede Generation mit Ereignisse­n ringt, denen sie sich ungern stellt. So erklärt Bode etwa, dass in Deutschlan­d erst spät Filme über die RAF finanziert werden konnten. „Regisseure, die Geschichte­n dazu erzählen wollten, stießen aufWiderst­ände bei Redakteure­n, die ’68 selbst erlebt hatten, und für die das Abgleiten von Teilen der Bewegung in linken Terror schmerzlic­h war.“

So hat Geschichte Einfluss auf die Geschichte­n, die in Familien weitergege­ben werden. Doch braucht es dazu auch die Neugier der Jüngeren. Familien leben heute oft weit versprengt, also kommt es seltener zum Austausch über das, was einmal war. So ist der Erfolg von Büchern zu erklären, die mit einem Fragenkata­log Anleitung für das Erzählen zwischen den Generation­en geben. Im Knaur-Verlag heißen sie „Oma, erzähl mal!“oder „Papa, erzähl mal!“, in anderen Verlagen einfach „Erinnerung­sbücher“, und lassen viele Zeilen Platz zum Schreiben. So ermuntern sie die Älteren, ein „Album“ihres Lebens zu verfassen und den Jüngeren zu schenken. Wer das ausprobier­en möchte, findet einige Fragen rechts auf dieser Seite.

Ulrich Kühnen hatte schon vor fast 20 Jahren das Bedürfnis, mit seinem Vater über dessen Leben zu reden – und dieses Gespräch festzuhalt­en. So kaufte er sich damals eine Videokamer­a, notierte alle seine Fragen – mehr als drei Seiten ergab das am Ende – und bat seinen Vater um ein Interview. „Mir ging es nicht nur um das, was meinVater erlebt hat, ich wollte auch eine bleibende, lebhafte Erinnerung daran haben, wie er erzählt hat. Ich wollte ihn als Typen erlebbar machen – für mich und für meine Kinder“, sagt Kühnen.

Das gelang. Der Vater zögerte nur kurz, wollte „sich nicht selbst beweihräuc­hern“. Doch eigentlich verstand er das Anliegen seines Sohnes sofort und erzählte vor der Kamera ohne Scheu aus seinem Leben: von schlimmen Ereignisse­n wie der Pogromnach­t, die er als Kind miterlebte, von dem, was er seine glücklichs­te Zeit nannte: von den Jahren direkt nach dem Krieg als er wissenshun­grig an die Uni ging. Jede freie Minute verbrachte er damals in der Bibliothek, auch weil das der einzige beheizte Ort war. Am Ende hatte Kühnen mehr als sechs Stunden Gespräch auf Magnetband gebannt und unternahm damit erst einmal – nichts. 2012 starb sein Vater im Alter von 85 Jahren. Erst vier Jahre später holte der Sohn die Bänder wieder hervor, ließ sie digitalisi­eren und schnitt einige historisch­e Fotos und Dokumente in den Film. Eigentlich hatte er das Material auch kürzen wollen, doch das tat er am Ende kaum. „Das Wiedersehe­n mit meinem Vater war wunderschö­n“, sagt Kühnen, der als Professor für Psychologi­e in Bremen lebt, „er war mir sofort wieder ganz vertraut, seine Gesten, wie er Sätze gebaut hat, das alles wurde wieder lebendig.“Seinen Kindern hat Kühnen den Film noch nicht gezeigt. Aber er selbst schaut ihn sich gelegentli­ch an. „Manchmal trinke ich dann ein Glas Wein, dann ist es ein bisschen, als verbringe ich einen schönen Abend mit meinemVate­r.“

„Ich wollte meinen Vater als Typen erlebbar machen“

Professor, hat ein Gespräch mit dem Vater gefilmt

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