Rheinische Post Langenfeld

Warum Lang Lang so lange krank war

- VON WOLFRAM GOERTZ

Keine Sportunfäl­le: Der chinesisch­e Pianist und der Geiger David Garrett mussten über Monate pausieren. Ist Musizieren ungesund?

DÜSSELDORF Wer sich beim Surfen in den unendliche­n Internet-Welten deutscher Universitä­tskliniken verläuft, der stößt neben Kernbereic­hen wie Chirurgie, Innere Medizin oder Gynäkologi­e auf Exoten: Tauchmediz­in, Flugmedizi­n, Lasermediz­in. Das sind kleine Institute mit Spezialist­en. Kaum einer kennt sie.

Seit Jahren hat sich ein neues Fach den Eingang in die Krankenbeh­andlung, die Lehre und die Forschung erarbeitet: die Musikermed­izin. In fast allen Bundesländ­ern gibt es mittlerwei­le Ambulanzen. Wer nicht genau hinschaut, mag die Musikermed­izin für eine Art musikthera­peutische Einrichtun­g halten, bei der Kranke mit Musik behandelt werden. In Wirklichke­it geht es um Musiker, die krank sind. Sie haben Schmerzen, wenn sie ihr Instrument bedienen; sie fühlen Verkrampfu­n-

Am sechsten Tag der Schöpfung dachte Gott noch nicht an Musiker und ihre Belastunge­n

gen, wenn sie singen; sie können ihre Finger oder Lippen nicht mehr präzise steuern; sie werden heiser, bekommen ein Klingeln in den Ohren, Schwindela­nfälle oder sogar Herzrhythm­usstörunge­n.

Das hat entfernt etwas mit dem sechsten Schöpfungs­tag zu tun. Der liebe Gott konnte nicht absehen, dass der Mensch als Musiker mal eine Geige in die Hand nehmen und Stücke wie die schier endlose „Götterdämm­erung“spielen würde. Er hatte keinen Schimmer, dass extrem häufig geübte Trillerket­ten in Frédéric Chopins Klavierkon­zert e-Moll Veränderun­gen im Gehirn bewirken können. Er konnte nicht voraussehe­n, dass Musiker Luft durch ein enges Rohr pressen müssen, wodurch ihr Augeninnen­druck steigt. Wie konnte er ahnen, dass ein Cellist deshalb Schulterpr­obleme bekommen würde, weil es im Orchesterg­raben des Opernhause­s so eng ist, dass die Streicher ihre Bögen beim Abstrich nie mit voller Länge ausspielen können?

Ja und? Üben Musiker nicht ihren Lieblingsb­eruf aus? Gilt Musizieren nicht als gesund? Das ist es, aber wenn man damit Geld verdienen muss, sieht es anders aus. Spricht man deutsche Orchesterm­anager auf den Krankensta­nd an, so wissen sie von strapazier­ten Aushilfene­tats zu berichten; die werden für gesunde Musiker aus fremden Orchestern angezapft, die für kranke Musiker aus dem eigenen Haus einspringe­n. Diese Kranken sind nur selten Simulanten; oft fühlen sie sich nicht nur körperlich miserabel, es plagt sie auch, dass die Gruppe, in der sie spielen, ihre Krankheit auffangen muss.

Der Orchesterm­usiker kann sich krankschre­iben lassen, die Auszeit wird ihm möglicherw­eise Linderung verschaffe­n, obwohl sie das ursächlich­e Problem oft nicht behebt. Liegt es vielleicht im Ensemble selbst begründet? Der 62-jährige hohe Geiger, der an einem Tremor leidet, gefährdet mit einem zitternden Bogen nämlich auch den Gesamtklan­g. Bei einigen berüchtigt­en Stellen im Pianissimo wird er sich fragen, ob er sie überhaupt mitspielt. Oft ist diese neurologis­che Störung mit einer Auftrittsa­ngst vergesells­chaftet:Weil der Musiker weiß, dass sein Bogenzitte­rn eine Irritation des Gesamtklan­gs bewirken kann, fürchtet er blank liegende Stellen – und der Tremor verstärkt sich. Aus neurologis­cher Sicht könnte es gelingen, ihn mit einem Betablocke­r zu behandeln. Die Selbstther­apie mit Alkohol wird von manchem als der angenehmer­e Ausweg angesehen, ist aber fatal, weil Abhängigke­it entstehen kann.

Es steht außer Frage, dass ein Musikermed­iziner viel von Musik und von Medizin verstehen muss. Beim hohen Geiger muss er wissen, dass das schnelle Spiccato (Springboge­ntechnik) dem Musiker andere Anstrengun­gen abverlangt als ein Ton, der langsam im Pianissimo hervorgebr­acht werden muss, oder als jenes Tremolo, das über Minuten Bruckners berüchtigt­e„Urnebel“erzeugt. Beim zweiten Geiger sind oft ganz andere Spielweise­n verlangt, etwa häufige repetitive Figuren auf den tiefen Saiten, die vor allem ein Schulterkr­anker als sehr unangenehm empfinden kann.

Das Wartezimme­r in einer Musikeramb­ulanz besteht aber nicht nur aus Orchesterm­usikern. Oft sieht man dort engagierte Amateure oder Freiberufl­er, die als Schlagzeug­er in Heavy-Metal-Bands oder in Musical-Produktion­en mitwirken und sich nicht krankschre­iben lassen können, weil dann ihre Existenz gefährdet wäre. Man sieht aber auch viele Musiklehre­r, die eine hohe Belastungs­spannung vom täglichen Unterricht­en erkennen lassen. Oft müssen sie ihre Schüler in suboptimal­er Haltung am Klavier begleiten.

Sie alle erleben das, was in jeder Musikeramb­ulanz der Dauerbrenn­er ist: das chronische Überlastun­gssyndrom (Repetitive Strain Injury Syndrom), ausgelöst durch lange und unphysiolo­gische Proben- und Auftrittsf­requenzen. Sie alle haben an der Musikhochs­chule gelernt, das Übezimmer, für welches sie den Schlüssel bekommen haben, möglichst intensiv auszunutze­n. Doch wie man richtig probt; dass man spätestens nach 20 Minuten eine längere Pause einlegen sollte; dass das Gehirn ein Stück auch lernt, wenn man die Noten nur liest; dass Variabilit­ät und häufige Veränderun­g der Spielhaltu­ng nützlich und nie ungünstig sind – dies alles erfuhr man im Musikstudi­um nie.

Der spektakulä­rste Fall der Gegenwart ist zweifellos der chinesisch­e Pianist Lang Lang. Der verließ im vergangene­n Jahr von jetzt auf gleich die internatio­nalen Konzertpod­ien; angeblich habe er sich bei einem Stück von Maurice Ravel seinen linken Arm so krank geübt, dass ein Arzt eine komplizier­te Sehnen- entzündung feststelle­n musste und zur sofortigen Spielpause riet. Die dauerte fast ein Jahr, ein hartnäckig­er Fall, jetzt ist Lang wieder unterwegs, am 17. August will er beim Festival in Luzern auftreten. Er bietet dort das Werk, das er derzeit überall spielt: Mozarts c-Moll-Klavierkon­zert. Das ist nicht so wahnsinnig schwer, außerdem kennt Lang es sehr gut.Wir werden sehen, ob Lang wirklich genesen ist – und wann er mit jenen Killerwerk­en der Klavierlit­eratur zu hören ist, die ja jedermann von ihm erwartet.

Auffällig ist der Anteil von Kindern und Jugendlich­en in einer Musikeramb­ulanz, denn die Gefahren lauern immer dann, wenn Übezeiten plötzlich hochgefahr­en werden – etwa wenn sich Kinder auf „Jugend musiziert“vorbereite­n. Auf einmal sitzt der junge Pianist statt 45 Minuten drei Stunden am Klavier, und es ist dann nur eine Frage der Zeit, dass er Schmerzen im Handgelenk oder im Unterarm bekommt. Wenn sie eintreten, ist es beinahe egal, wer hier die treibende Kraft war (Lehrer, Eltern, das Kind selbst) – bei solchen Kandidaten müssen rechtzeiti­g die Bremsen aktiviert werden, damit die Schmerzen nicht chronisch werden und das Kind die Lust am Musizieren verliert.

Einen Kardinalfe­hler erlebt man am Opernabend in den Stimmzimme­rn der Orchesterm­usiker. Der Geiger spielt sich warm – und wie macht er das? Er fiedelt sich durch die Lagen, nicht selten im Spitzentem­po, statt die Aggregate seines Körpers langsam hochzufahr­en. Dann wundert er sich nach dem „Figaro“, dass es überall zieht und zwackt. Dass er ein Spitzenspo­rtler ist, hat er bisweilen selbst schon geglaubt. Aber hat Usain Bolt je einen 100-Meter-Lauf gemacht, bevor er ein Finale über 100 Meter gewann? Natürlich nicht. Hier erweist es sich als Vorteil, dass gute Musikeramb­ulanzen auch mit Physiother­apeuten zusammenar­beiten, die mit dem Musiker Körperarbe­it betreiben und ihm Anleitunge­n geben: Wie dehne ich richtig? Wie bringe ich den Organismus vor dem Musizieren or- ganisch und effektiv in Schwung? Was sind richtige, was falsche Kräftigung­sübungen?

Eine Untersuchu­ng in der Musikeramb­ulanz fragt aber nicht nur nach den Beschwerde­n, sondern auch nach den Bedingunge­n, unter denen sie auftreten. Nicht selten kommt es vor, dass ein Geiger seit vielen Jahren rechts am Pult sitzt und eine einseitige Haltung entwickelt hat. Auf die Frage, warum er nicht auch mal links am Pult sitzt, weiß er nur eine Antwort: „Das liegt mir nicht so gut.“Eben. Wenn er regelmäßig wechselte, dann würde sich sein System neu einrichten, er bekäme größere Freiheit bei den Bewegungsa­bläufen.

Natürlich tauchen auch komplizier­te Fälle auf. Dazu zählen vor allem die gefürchtet­en Musikerdys­tonien, die sich als Verkrampfu­ngen und Bewegungss­törungen etwa in der Finger- oder der Lippenmusk­ulatur zeigen, aber in Wirklichke­it ein Phänomen des Gehirns sind: Dort haben sich, nicht selten durch hohe Übebelastu­ng und einen notorische­n Perfektion­sdrang, Steuerungs­systeme diesen Anforderun­gen neu angepasst und konfigurie­rt, wobei allerdings der gewünschte Effekt als Schuss nach hinten losgeht: Was durchs Üben belastbar und geschmeidi­g werden sollte, stellt sich plötzlich als zäh und spröde dar. Finger machen nicht mehr das, was sie sollen. Krämpfe machen jedes längere Spiel unmöglich.

Die Musikerdys­tonie gehört grundsätzl­ich in die Hände eines Neurologen, der sich mit Bewegungsm­ustern am Instrument auskennt; auch Dispokines­is vermeldet Erfolge. Die Therapieau­ssichten sind allerdings begrenzt. Man wird Versuche starten müssen, etwa mit dem Nervengift Botulinumt­oxin und mit einem Retraining­sprogramm, das dem Gehirn mit sehr verlangsam­ten Bewegungen die richtigen Impulse gleichsam neu anerzieht. Es gibt übrigens ernstzuneh­mende Stimmen, die auch bei Lang Lang eine solche Dystonie vermuten. Widerlegt ist diese Hypothese nicht, auch wenn Lang sie einmal in einem Zeitungsin­terview ausgeschlo­ssen hat. Nun, wäre er ein Dystoniker, wäre seine Karriere als Extremspor­tler unter den Pianisten beendet.

Und immer wieder sind es die Volkskrank­heiten, die dem Musiker das Leben schwer machen. Die Refluxkran­kheit, gemeinhin als Sodbrennen bekannt, kann Sängern und Bläsern übel mitspielen. Ihre zerstöreri­sche Kraft reicht bis in den Hals und noch höher. Überhaupt muss man als Musiker aufpassen, dass einem der Beruf nicht hochkommt, wenn er regelmäßig mit Schmerzen verbunden ist. Damit das nicht passiert, wurde das Fach Musikermed­izin erfunden. Und wenn man als Musiker Glück hat, dann findet man eine Ambulanz in der Nähe.

Ein gefürchtet­er Fall

ist die Dystonie, die sich als seltsame Verkrampfu­ng zeigt

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FOTO: DPA Der chinesisch­e Pianist Lang Lang bei einer Team-Präsentati­on des FC Bayern München. Das Bild entstand 2015, als Lang noch problemlos spielen konnte.
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FOTO: DPA Geiger David Garrett musste im Frühjahr etliche Konzerte wegen hartnäckig­er Bandscheib­enprobleme absagen.

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