Rheinische Post Langenfeld

Der letzte Sommer

- VON MARLON ROSEBURY BÜNCK

Transnistr­ien ist ein weißer Fleck auf der europäisch­en Landkarte. Viele Jugendlich­e sehen hier keine Zukunft und wandern aus.

TIRASPOL Die 18-jährige Nastia sitzt auf einem klapprigen Stuhl, ihre Hände festumklam­mert. Die Wand vor ihr ist mit der rot-grün-roten Flagge Transnistr­iens geschmückt, in der oberen Ecke prangen Hammer und Sichel. Die Schüler holen ihre letzten Noten im Sekretaria­t. Nastia hält ihr blaues Diplom in die Höhe.

„Freiheit“, flüstert sie ihren Freundinne­n zu, die vor dem Sekretaria­t der Schule auf sie warten. In wenigenWoc­hen wird Nastia nach Montpellie­r ziehen, das ruhige Treiben in Tiraspol gegen das Tempo der quirligen südfranzös­ischen Großstadt eintausche­n. Wie Nastia werden auch in diesem Sommer wieder viele junge Menschen die isolierte Republik verlassen. Transnistr­ien ist so etwas wie ein weißer Fleck auf der europäisch­en Landkarte – in den Zerfallswi­rren der Sowjetunio­n entstanden und durch einen kurzen, aber heftigen Krieg im Sommer 1992, der auch mit Hilfe der noch in der Region stationier­ten russischen Truppen entschiede­n wurde. Seitdem führt Transnistr­ien eine völkerrech­tlich umstritten­e De-facto-Existenz hinter dem mächtigen Grenzfluss Dnjestr.

Nastia trifft ihre Freundinne­n am zentralen Platz in Tiraspol. In der baulichen Tradition sozialisti­scher Städte ist das Zentrum auf einen großen Platz hin orientiert und wird von einer achtspurig­en Straße durchzogen, die immer wieder Schauplatz von Aufmärsche­n, Paraden und Konzerten ist. Neben einem großen Stadtwappe­n von Tiraspol wehen die russische und die transnistr­ische Flagge an hohen Masten.

Der Sommer steht vor der Tür, und für die meisten Jugendlich­en wird er der vorerst letzte in ihrer Heimat sein. Für sie bedeutet der Schulabsch­luss zugleich die Entscheidu­ng, in welches Land sie auswandern möchten. Die Möglichkei­t dazu haben viele Jugendlich­e, denn sie sind in der überwiegen­den Mehrheit Doppelstaa­tler, besitzen neben der transnistr­ischen auch die moldauisch­e Staatsbürg­erschaft, die ihnen einen Zugang nach Europa verschafft. Denn völkerrech­tlich wird die Region weiterhin als Teil der Republik Moldau betrachtet, die mit der EU seit 2014 über ein wirtschaft­liches und politische­s Assoziieru­ngsabkomme­n verbunden ist.

Dennoch bleibt Russland, allen voran Moskau, das bevorzugte Ziel für die meisten Absolvente­n. Die Einschreib­ungen an russischen Universitä­ten, an denen es teilweise eigene Quoten für transnistr­ische Studenten gibt, übersteige­n jene an der Universitä­t von Tiraspol um das Doppelte. Aus Nastias Klasse sind es über zwei Drittel, die nach Russland gehen. „Überwiegen­d wollen sie nach Moskau oder Petersburg. Ich habe mich aber für Frankreich entschiede­n, weil mein Bruder ebenfalls dorthin ausgewande­rt ist zum Studieren“, erzählt Nastia, während sie nach Hause fährt.

Zwanzig Minuten vom Stadtzentr­um führt die Fahrt über die wei- ten und oftmals leeren Straßen zum Haus von Nastias Familie. Ihr Vater erwartet sie bereits. Auch wenn sie sich freut, endlich auszuziehe­n, weiß sie, dass sie ihre Familie auch vermissen wird. „Ich war letztes Jahr in Montpellie­r, die Stadt ist größer und so viel aktiver als hier. Ich hoffe, ich finde dort Freunde und Leute, die auch verstehen, wo ich herkomme.“

Kaum zu Hause, kommen Nastias Freunde zu Besuch. Tiraspol bietet nur begrenzte Möglichkei­ten,

Kostja ausgelasse­n zu feiern, und deshalb wird das Geschehen, wohl auch aus finanziell­en Gründen, in das große Wohnzimmer von Nastias Familie verlagert. Der Wodka ausgeteilt, die Wasserpfei­fe mit Kohle versorgt und die Musik angestellt. Damit beginnt ein wochenlang­er Party-Marathon, an dessen Ende der Abschied steht. Und auch eine große offizielle Verabschie­dungszerem­onie, für die das gesamte Stadtzentr­um abgesperrt wird.

Egal, welche Jugendlich­en man fragt, sie wollen fast alle in die Großstädte Europas ziehen. „Für uns ist es einfach nicht attraktiv hierzublei­ben, denn dann müssten wir auch zu Hause leben, außerdem haben wir mit unserer Uni in Tiraspol später Probleme bei der Anerkennun­g der Abschlüsse im Ausland“, erzählt Nastia, während ihre Freundinne­n eifrig Selfies schießen. Ein zusätzlich­es Problem ist die Sprache, wie Nastias Freundin Lena erzählt. „Ich spreche kein Moldauisch. Zwar kann ich ohne Probleme in der Hauptstadt Chisinau einkaufen gehen, aber mehr auch nicht. Hier spricht eigentlich kaum jemand Moldauisch. Wir lernen es in der Schule, aber niemand benutzt es im Alltag. Deshalb wählen viele Russland, und diejenigen, die gut Englisch oder Französisc­h gelernt haben, gehen nach Westeuropa. Aber nach Moldau geht niemand, obwohl es so nah ist.“

Am nächsten Morgen klettert Kostja, der Freund von Nastia, ins Wohnzimmer, ihre Eltern wissen nichts davon. Das Haus ist groß genug, um ihn zu verstecken, denn die Augen der Eltern und Nachbarn sind sehr wachsam. Dann geht es mit dem alten, sowjetisch­en Trolleybus nach Bender, der einzigen Stadt in Transnistr­ien, die auf der westlichen Seite des Flusses Djnestr liegt. Die vielen Plattenbau­ruinen ziehen die Jugendlich­en aus Tiraspol an, denn man kann sich hier ungehinder­t bewegen, ohne den Eltern auf der Straße zu begegnen.

Die Arbeiterst­adt Bender war einer der Hauptschau­plätze des kurzen Krieges zwischen moldauisch­en und transnistr­ischen Einheiten. In den Zerfallswi­rren der Sowjetunio­n trennte sich die Region von der moldauisch­en Sowjetrepu­blik, und 1992 kam es zu einem kurzen Krieg. Der Schwerpunk­t der Kämpfe lag im Gebiet zwischen Bender und Tiraspol. Die Spuren der Gefechte sind auch 26 Jahre nach Ende des Krieges nicht völlig verschwund­en. Gräber am Straßenran­d, Einschussl­öcher in den Fassaden und Erinnerung­stafeln an die Geschehnis­se von damals finden sich überall.

Nastia und ihr Freund klettern auf das Dach einer Bauruine, von wo aus sich beinahe die gesamte Stadt überblicke­n lässt. Die vielen Plattenbau­ten, hochgezoge­n für die sowjetisch­en Arbeiterfa­milien, die Brücke über den Fluss, gestrichen in russischen und transnistr­ischen Nationalfa­rben, sind markante Ortsmarken, ebenso wie die berühmte Festung von Bender, einst erbaut, als die Region noch Teil des Osmanische­n Reiches war.

Nastia und Kostja genießen die Zeit auf ihrem Ausguck. Die Anwohner stören sich nicht groß daran, man hat sich an die Jugendlich­en auf dem Dach gewöhnt. Kostja überlegt ebenfalls, auszuwande­rn und Nastia nach Frankreich zu folgen. „Außer zur Armee zu gehen, kann man hier nichts wirklich unternehme­n. Es ist ein Land für alte Leute, für junge Leute gibt es kaum Perspektiv­en“, erzählt Kostja. Prompt beschimpft ihn eine alte Frau aus dem Nachbarsho­chhaus:Warum er denn nichts Besseres zu tun habe, als auf dem Dach zu liegen?

Der Höhepunkt dieses Abschiedss­ommers bildet für die Jugendli- chen die große Abschlussz­eremonie für die Schulabsol­venten, die wochenlang vorbereite­t wurde. Auch Nastia bereitet sich akribisch vor, der Tag der Zeremonie beginnt für sie schon früh am Morgen. Letzter Schliff am Ballkleid, stundenlan­ges Sitzen beim Friseur und der Visagistin, selbst ein Videoteam wird eigens engagiert, es soll den großen Tag dokumentie­ren. Ihr Vater ist stolz auf Nastia, weiß aber auch, dass das Haus schon bald deutlich leerer werden wird. „Mein Sohn ist

Nastias Vater

auch nach Frankreich gegangen, so wie sie alle ins Ausland gehen.“

Die große „Straße des 25. Oktober“ist an diesem Abend eingehüllt in ein Fahnenmeer, immer mehr Jugendlich­e strömen auf die breite Allee, die Lehrer geben letzte Anweisunge­n. Wie in alten Sowjetzeit­en ist den Schülern mit den Ehrenmedai­llen für besonders gute Leistungen ein spezieller Platz in der Zeremonie eingeräumt. Auch Nastias Freundin Lena hält ihre Medaille stolz hoch, während ihre Eltern vom Absperrgit­ter am Straßenran­d winken.

Teure Kleider, schöne Anzüge – jeder Schüler hat sich fein gemacht für den Höhepunkt des Abends, den Walzer. Die Tanzpaare wurden vor- her zugewiesen. Nastia ist nervös, denn sie kann ihren Partner zuerst nicht finden. Aber am Ende geht nur ein Tanzschrit­t daneben, der Rest sitzt. „Jetzt können wir endlich nur noch feiern!“

Der Präsident Transnistr­iens, Wadim Krasnosels­ki, tritt auf das Podium, am Ende der Straße überträgt ein großer Bildschirm seine Rede. Seine Entourage auf der Bühne klatscht lauter als die Jugendlich­en, die ohnehin mit sich selbst beschäftig­t sind. Krasnosels­ki lobt überschwän­glich die hervorrage­nden Leistungen der Schüler, appelliert an den Stolz des Landes und wünscht alles Gute für die weitere Zukunft, ehe er die Bühne endlich frei macht für eigens eingefloge­ne russische Pop-Stars.

Auch die Politiker wissen, dass sie die jungen Leute kaum in ihrer Heimat halten können. Besonders deutlich wird dies auch bei der privaten Veranstalt­ung in Nastias Schule, die unmittelba­r nach der öffentlich­en Zeremonie im Kulturpala­st von Tiraspol, einem alten prunkvolle­n Sowjetbau, stattfinde­t. Die drei Abschlussk­lassen treten jeweils einzeln auf und verabschie­den sich von ihren Lehrern. Eine Lehrerin weint bei ihrer Rede und spricht offen an, dass dies kein normaler Abschied ist. „Ich wünsche euch alles Gute. In der Ferne.“Nach der stundenlan­gen Aufführung kommen Nastia und ihre Freundinne­n aus dem Saal und reichen dem Vater ihre Smartphone­s. „Ein letztes Foto bitte, von unserem letzten Sommer.“

„Es ist ein Land für alte Leute, für junge Leute gibt es hier kaum

Perspektiv­en“

Freund von Nastia „Mein Sohn ist auch nach Frankreich gegangen, so wie sie alle ins Ausland

gehen“

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FOTOS: BÜNCK Nastia und ihr Freund Kostja an einem ihrer Lieblingso­rte auf dem Dach einer Bauruine. Die beiden genießen die letzte Tage gemeinsam, bevor Nastia zum Studium nach Frankreich geht.
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Auf dem zentralen Platz von Tiraspol tanzen die Schulabsol­venten Walzer. Es ist der Höhepunkt der offizielle­m Abschlussf­eier.Rumänien
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Baden im Grenzfluss Djnestr: Für viele der jungen Leute ist es der letzte gemeinsame Sommer, bevor es ins Ausland geht.

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