Entwicklungsland und Weltmacht
China bewegt sich zwischen Extremen – rückständig und hypermodern zugleich. Das deutsch-chinesische Ehepaar Baron hat den Alltag, die Gesellschaftskultur und die Seele der neuen Supermacht erkundet.
Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht gehört neben der Digitalisierung, der Globalisierung und der weltweiten Migration zu den großen Trends und Herausforderungen der Gegenwart. Während die ökonomische und politische Entwicklung schon in vielen Büchern und Artikeln gewürdigt wurde, fehlt bis heute ein populär geschriebenes Buch über die „geistesgeschichtlichen, kulturellen und sozialpsychologischenVoraussetzungen zum Verständnis der Chinesen“, wie einer der Autoren, der frühere Wirtschaftswoche-Chefredakteur Stefan Baron, richtig schreibt. Der Publizist bringt dafür gute Voraussetzungen mit. Er ist mit einer Chinesin aus einer alten Familie von Gelehrten und Staatsdienern verheiratet und beschäftigt sich nunmehr seit fast 30 Jahren mit China. Zeitweise war die „Wirtschaftswoche“die einzige politische Wochenzeitschrift, die kontinuierlich über den neuen Riesen im Osten Asien berichtete.
Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch ist gelungen und lesenswert. Es gibt sowohl demjenigen, der kaum über die neue Weltmacht Bescheid weiß, wie auch dem Fortgeschrittenen, gute und valide Informationen. Das liegt auch daran, dass Baron das Buch mit seiner Ehefrau Guangyan Yin-Baron gemeinsam geschrieben hat. Somit verbindet es Binnen- und Außensicht auf die chinesische Kultur. In dieser Kombination ist das Werk tatsächlich einzigartig.
Hinzukommt, dass die beiden Autoren einen journalistischen Zugang zum Thema gewählt haben. Baron, der früher auch beim „Spiegel“arbeitete, kann mit seiner Magazinschreibe den Leser länger bei der Stange halten als dies einemWissenschaftler über ein Fachbuch in der Regel gelingt, selbst wenn der sich um eine einfache Sprache bemüht.
Auch der Aufbau besticht. Die Einleitung geht geht gleich furios los, wenn die Autoren die Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltmächten USA (absteigend) und China (aufsteigend) beschreiben. So war das regelmäßig in der Geschichte der Menschheit, wenn eine Großmacht die andere ablöst. Der im Buch zitierte US-Autor Graham Allison nennt das die Thukydides-Falle nennt. Denn der altgriechische Historiker hat als erster erkannt, dass derWechsel von einer Großmacht zur anderen, in seinem Fall von Sparta zu Athen, gewöhnlich in einem großen Krieg endet. Von 16 Fällen, die Allison untersucht hat, führten in zwölf die Rivalitäten zu einer bewaffneten Auseinandersetzung. Gut möglich, so auch die Autoren, dass sich das bei den USA und China wiederholt.
Nach dieser fulminanten Ouvertüre wird es jedoch friedlicher, bisweilen sogar beschaulich. Aber nie langweilig. Das Ehepaar Baron beginnt mit der Beschreibung des kollektiven Bewusstseins der Chinesen, es folgt das westliche China-Bild und die philosophischen Grundlagen von Konfuzius bis Mao und Deng. Das ist angesichts der komplexen Kultur ein fast aussichtsloses Unterfangen. Doch die Autoren machen zumindest die Grundlinien deutlich. Es folgt das eigentliche Psychogramm der Chinesen, ihre Erziehung, ihr Denken, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Lebenseinstellungen. Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Wirtschaftsleben, der Analyse des politischen Systems und der Stellung Chinas in der Welt.
Die Stärke des Buchs liegt in der Gleichzeitigkeit der persönlichen Landeskenntnisse der Autoren, des Hinweises auf eineVielzahl von Studien und der literarischen Beispiele. Der Leser lernt also nicht nur Statistiken, sondern vor allem über GuangyanYin-Baron auch den Alltag und die Literatur des Landes kennen.
Da Stefan Baron zugleich gelernter Ökonom ist, kommt auch die wirtschaftliche und politische Analyse nicht zu kurz, etwa die der Technologiepolitik oder auch der Militärstrategie der Chinesen.
Geschickt lösen die Autoren auch den Konflikt zwischen dem prekären Rechts- und Staatsverständnis der Chinesen auf der einen Seite und den Anforderungen der Moderne auf der anderen Seite. Dem begegnet dieses Volk mit einem wahren Bildungshunger und einer unerhörten Leistungsbereitschaft. Es wird klar, dass sich das Land zwischenVor- und Postmoderne befindet, einer Mischung aus Kalabrien und Silicon Valley. Hierzu passt die starke Familienbindung der Chinesen, die ebenfalls mehr an Kalabrien als an andere westliche Regionen erinnert. Gleichwohl ist die Herzlichkeit innerhalb der Familie eine der sympathischsten Züge der chinesischen Gesellschaft.
Trotz aller Vorzüge lässt das Buch manchmal analytische Tiefe vermissen, etwa wenn es um das interessante Verhältnis von Großunternehmen zu kleinteiligen Wirtschaftsstrukturen geht. Und die Gretchenfrage, ob Demokratie in China möglich ist, beantworten die Autoren mit dem vagen Hinweis auf eine mögliche„konfuzianische“Demokratie. Sie lassen dabei völlig außer acht, dass das gleichfalls chinesische Taiwan inzwischen fast eine Musterdemokratie geworden ist. Die Autoren machen sich implizit das Schlagwort von der „Herrschaft für das Volk“zu eigen, das angeblich der chinesischen Staatstradition entspricht. Im Gegensatz dazu steht die „Herrschaft durch das Volk“, die unserem demokratischenVerständnis entspricht.
Auch einige Fehler und Nachlässigkeiten sind zu finden. So beschreiben die Autoren die angeblich wahren Ziele des Diktators Mao beim Angriff Chinas auf Vietnam im Jahr 1979 (S. 161). Da war nur der„Große Steuermann“schon drei Jahre tot. Auch die Behauptung, dass die christlichen Nestorianer, die Mitte des 7. Jahrhunderts China besuchten, die einzige Begegnung des Landes mit dem Christentum bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewesen sei, ist falsch. Tatsächlich brachten Reisende wie Marco Polo oder Johannes von Montecorvino Missionare im 13. und 14. Jahrhundert ins Reich der Mitte. Im Jahr 1307 ließ der Papst sogar ein Erzbistum Peking mit Suffraganbistümern einrichten – mit Montecorvino als erstem Erzbischof.
Solche Fehler schmälern aber nicht den Gesamteindruck des Buchs der beiden Autoren. Wer eine spannend geschriebene, aktuelle und umfassende Einführung in die chinesische Gegenwartskultur sucht, kommt um dasWerk nicht herum. Es ist eine Pflichtlektüre für Interessierte, aber auch Menschen, die geschäftlich oder kulturell mit China zu tun haben, der künftig führenden Macht der Welt.