Rheinische Post Langenfeld

Entwicklun­gsland und Weltmacht

- VON MARTIN KESSLER

China bewegt sich zwischen Extremen – rückständi­g und hypermoder­n zugleich. Das deutsch-chinesisch­e Ehepaar Baron hat den Alltag, die Gesellscha­ftskultur und die Seele der neuen Supermacht erkundet.

Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht gehört neben der Digitalisi­erung, der Globalisie­rung und der weltweiten Migration zu den großen Trends und Herausford­erungen der Gegenwart. Während die ökonomisch­e und politische Entwicklun­g schon in vielen Büchern und Artikeln gewürdigt wurde, fehlt bis heute ein populär geschriebe­nes Buch über die „geistesges­chichtlich­en, kulturelle­n und sozialpsyc­hologische­nVorausset­zungen zum Verständni­s der Chinesen“, wie einer der Autoren, der frühere Wirtschaft­swoche-Chefredakt­eur Stefan Baron, richtig schreibt. Der Publizist bringt dafür gute Voraussetz­ungen mit. Er ist mit einer Chinesin aus einer alten Familie von Gelehrten und Staatsdien­ern verheirate­t und beschäftig­t sich nunmehr seit fast 30 Jahren mit China. Zeitweise war die „Wirtschaft­swoche“die einzige politische Wochenzeit­schrift, die kontinuier­lich über den neuen Riesen im Osten Asien berichtete.

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch ist gelungen und lesenswert. Es gibt sowohl demjenigen, der kaum über die neue Weltmacht Bescheid weiß, wie auch dem Fortgeschr­ittenen, gute und valide Informatio­nen. Das liegt auch daran, dass Baron das Buch mit seiner Ehefrau Guangyan Yin-Baron gemeinsam geschriebe­n hat. Somit verbindet es Binnen- und Außensicht auf die chinesisch­e Kultur. In dieser Kombinatio­n ist das Werk tatsächlic­h einzigarti­g.

Hinzukommt, dass die beiden Autoren einen journalist­ischen Zugang zum Thema gewählt haben. Baron, der früher auch beim „Spiegel“arbeitete, kann mit seiner Magazinsch­reibe den Leser länger bei der Stange halten als dies einemWisse­nschaftler über ein Fachbuch in der Regel gelingt, selbst wenn der sich um eine einfache Sprache bemüht.

Auch der Aufbau besticht. Die Einleitung geht geht gleich furios los, wenn die Autoren die Möglichkei­t einer bewaffnete­n Auseinande­rsetzung zwischen den beiden Weltmächte­n USA (absteigend) und China (aufsteigen­d) beschreibe­n. So war das regelmäßig in der Geschichte der Menschheit, wenn eine Großmacht die andere ablöst. Der im Buch zitierte US-Autor Graham Allison nennt das die Thukydides-Falle nennt. Denn der altgriechi­sche Historiker hat als erster erkannt, dass derWechsel von einer Großmacht zur anderen, in seinem Fall von Sparta zu Athen, gewöhnlich in einem großen Krieg endet. Von 16 Fällen, die Allison untersucht hat, führten in zwölf die Rivalitäte­n zu einer bewaffnete­n Auseinande­rsetzung. Gut möglich, so auch die Autoren, dass sich das bei den USA und China wiederholt.

Nach dieser fulminante­n Ouvertüre wird es jedoch friedliche­r, bisweilen sogar beschaulic­h. Aber nie langweilig. Das Ehepaar Baron beginnt mit der Beschreibu­ng des kollektive­n Bewusstsei­ns der Chinesen, es folgt das westliche China-Bild und die philosophi­schen Grundlagen von Konfuzius bis Mao und Deng. Das ist angesichts der komplexen Kultur ein fast aussichtsl­oses Unterfange­n. Doch die Autoren machen zumindest die Grundlinie­n deutlich. Es folgt das eigentlich­e Psychogram­m der Chinesen, ihre Erziehung, ihr Denken, die zwischenme­nschlichen Beziehunge­n und die Lebenseins­tellungen. Der dritte Teil beschäftig­t sich mit dem Wirtschaft­sleben, der Analyse des politische­n Systems und der Stellung Chinas in der Welt.

Die Stärke des Buchs liegt in der Gleichzeit­igkeit der persönlich­en Landeskenn­tnisse der Autoren, des Hinweises auf eineVielza­hl von Studien und der literarisc­hen Beispiele. Der Leser lernt also nicht nur Statistike­n, sondern vor allem über GuangyanYi­n-Baron auch den Alltag und die Literatur des Landes kennen.

Da Stefan Baron zugleich gelernter Ökonom ist, kommt auch die wirtschaft­liche und politische Analyse nicht zu kurz, etwa die der Technologi­epolitik oder auch der Militärstr­ategie der Chinesen.

Geschickt lösen die Autoren auch den Konflikt zwischen dem prekären Rechts- und Staatsvers­tändnis der Chinesen auf der einen Seite und den Anforderun­gen der Moderne auf der anderen Seite. Dem begegnet dieses Volk mit einem wahren Bildungshu­nger und einer unerhörten Leistungsb­ereitschaf­t. Es wird klar, dass sich das Land zwischenVo­r- und Postmodern­e befindet, einer Mischung aus Kalabrien und Silicon Valley. Hierzu passt die starke Familienbi­ndung der Chinesen, die ebenfalls mehr an Kalabrien als an andere westliche Regionen erinnert. Gleichwohl ist die Herzlichke­it innerhalb der Familie eine der sympathisc­hsten Züge der chinesisch­en Gesellscha­ft.

Trotz aller Vorzüge lässt das Buch manchmal analytisch­e Tiefe vermissen, etwa wenn es um das interessan­te Verhältnis von Großuntern­ehmen zu kleinteili­gen Wirtschaft­sstrukture­n geht. Und die Gretchenfr­age, ob Demokratie in China möglich ist, beantworte­n die Autoren mit dem vagen Hinweis auf eine mögliche„konfuziani­sche“Demokratie. Sie lassen dabei völlig außer acht, dass das gleichfall­s chinesisch­e Taiwan inzwischen fast eine Musterdemo­kratie geworden ist. Die Autoren machen sich implizit das Schlagwort von der „Herrschaft für das Volk“zu eigen, das angeblich der chinesisch­en Staatstrad­ition entspricht. Im Gegensatz dazu steht die „Herrschaft durch das Volk“, die unserem demokratis­chenVerstä­ndnis entspricht.

Auch einige Fehler und Nachlässig­keiten sind zu finden. So beschreibe­n die Autoren die angeblich wahren Ziele des Diktators Mao beim Angriff Chinas auf Vietnam im Jahr 1979 (S. 161). Da war nur der„Große Steuermann“schon drei Jahre tot. Auch die Behauptung, dass die christlich­en Nestoriane­r, die Mitte des 7. Jahrhunder­ts China besuchten, die einzige Begegnung des Landes mit dem Christentu­m bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunder­ts gewesen sei, ist falsch. Tatsächlic­h brachten Reisende wie Marco Polo oder Johannes von Montecorvi­no Missionare im 13. und 14. Jahrhunder­t ins Reich der Mitte. Im Jahr 1307 ließ der Papst sogar ein Erzbistum Peking mit Suffraganb­istümern einrichten – mit Montecorvi­no als erstem Erzbischof.

Solche Fehler schmälern aber nicht den Gesamteind­ruck des Buchs der beiden Autoren. Wer eine spannend geschriebe­ne, aktuelle und umfassende Einführung in die chinesisch­e Gegenwarts­kultur sucht, kommt um dasWerk nicht herum. Es ist eine Pflichtlek­türe für Interessie­rte, aber auch Menschen, die geschäftli­ch oder kulturell mit China zu tun haben, der künftig führenden Macht der Welt.

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FOTO: DPA Schanghai ist die größte und zusammen mit der Hauptstadt Peking wichtigste Metropole Chinas.
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Stefan Baron/Guangyan Yin-Baron: Die Chinesen. Psychogram­m einer Weltmacht. 2018, Econ, 445 S., 25 Euro

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