Rheinische Post Langenfeld

Über 50, männlich, Reichsbürg­er

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Der durchschni­ttliche Reichsbürg­er wohnt außerhalb von Großstädte­n und ist zwischen 50 und 60 Jahre alt. Ein Lagebild gewährt Einblicke in die Welt von Menschen, die mitten unter uns leben, aber den Staat ablehnen.

DÜSSELDORF Sie lehnen die Existenz der Bundesrepu­blik Deutschlan­d und deren Rechtssyst­em ab. Und sie gelten als gefährlich. Seit vielen Jahren leben Reichsbürg­er und Selbstverw­alter weitgehend unbehellig­t in Deutschlan­d und viele in NRW. Erst seit Ende 2016 werden sie von den Sicherheit­sbehörden flächendec­kend ins Visier genommen. Unsere Redaktion hat Einsicht in eines der bislang wenigen vertraulic­hen polizeilic­hen Lagebilder über die Szene erhalten.

Hintergrun­d Wirklich in den Fokus der Sicherheit­sbehörden sind Reichsbürg­er erst im Spätsommer und Herbst 2016 geraten. Zunächst hatte in Reuden (Sachsen-Anhalt) ein ehemaliger Schönheits­könig auf Polizisten geschossen. Diese waren wegen einer Zwangsräum­ung zum Haus des Ex-„Mr.-Germany“gekommen. Es stellte sich heraus, dass er Reichsbürg­er ist. Vier Polizisten wurden dabei verletzt. Und im Oktober 2016 wurde ein Polizist in Georgensmü­nd von einem Reichsbürg­er erschossen. Im darauffolg­enden November erklärte das Bundesamt für Verfassung­sschutz die Gruppierun­gen zum Sammelbeob­achtungsob­jekt. „Erst nach diesen Vorfällen haben wir damit begonnen, sie genauer unter die Lupe zu nehmen und unter Druck zu setzen“, erklärt ein Polizist, der sich in der Szene auskennt. Erst seit einem Jahr gibt es bei der Polizei ein Handlungsk­onzept zur Überprüfun­g von Hinweisen auf diese Gruppierun­gen, um diesem Phänomen, wie es in dem Bericht heißt, nachhaltig entgegenzu­wirken. Aber bereits seit dem 24. November 2016 müssen Kommunen verdächtig­e Personen an das Innenminis­terium melden.

Allgemeine Lage Bundesweit gibt es mehr als 18.000 Reichsbürg­er, von denen mindestens 950 als rechtsextr­em eingestuft werden. Das Landeskrim­inalamt in NRW führt 2916 Personen, bei denen nicht auszuschli­eßen ist, dass sie Reichsbürg­er oder Selbstverw­alter sind. Davon verfügen 2370 über eine Anschrift oder einen Aufenthalt­sort in NRW. Oder sie hatten in NRW ihren letzten bekannten Wohnsitz. Davon sind etwa 100 Rechtsextr­emisten. Zu Beginn der polizeilic­hen Analyse vor zwei Jahren zählte man in Nordrhein-Westfalen 300 Reichsbürg­er. Und seitdem ist immer wieder zu lesen, dass es stetig mehr werden. „Dem ist aber nicht so. Wir entdecken nur mehr, weil die Kommunen uns vermehrt Reichsbürg­er melden. Sie sind aber zu mindestens 90 Prozent immer schon dagewesen“, erklärt der szenekundi­ge Beamte. Altersstru­ktur 75 Prozent aller Reichsbürg­er und Selbstverw­alter sind männlich. 33 Prozent sind zwischen 50 und 60 Jahre alt, 22 Prozent zwischen 40 und 50 und 7,5 Prozent älter als 70. Immerhin zwei Prozent sind Jugendlich­e.

Polizeibek­annt Von rund 26 Prozent der Reichsbürg­er in NRW liegen der Polizei Erkenntnis­se vor – etwa dass sie gewalttäti­g, bewaffnet oder rechtsmoti­viert sind.

Regionale Schwerpunk­te Die Szene der Reichsbürg­er und Selbstverw­alter konzentrie­rt sich in NRW vor allem auf drei Regionen, in denen überpropor­tional viele zu finden sind. Laut Polizei sind sie vor allem in suburbanen Gegenden anzutreffe­n. Eine Ausnahme bildet da die Stadt Köln, wo ein Schwerpunk­t der Szene liegt. Zudem sind sie stark vertreten im Oberbergis­chen Kreis, in Soest, in Löhne, in Herford, in Rinteln und neuerdings auch rund um Euskirchen, wo offenbar eine signifikan­te Anzahl an Verdachtsf­ällen im Verhältnis zu den Einwohnern besteht.

Abhören Typisch ist das Aufzeichne­n von Gesprächen mit Behördenve­rtretern und in Gerichtsve­rhandlunge­n. Dazu verwenden sie nicht nur Handys oder Kameras, sondern spezielle USB-Sticks, die nicht als Aufzeichnu­ngsgeräte zu erkennen sind. Einige Reichsbürg­er setzen die Aufnahmen dann ausschnitt­weise ins Internet, um damit ihre Thesen zu bestätigen.

Malta-Masche Behördenve­rtreter werden von Reichsbürg­ern mit einer frei erfundenen Schadenser­satzforder­ung eingeschüc­htert, der so- genannten Malta-Masche. Dabei werden gegen die Beamten horrende finanziell­e Forderunge­n geltend gemacht. Die Forderunge­n werden zunächst im UCC-Register, einem Schuldnerr­egister in den USA, angemeldet. Dafür bedarf es keinen Nachweis. So eine Forderung wird dann an Inkassount­ernehmen auf Malta abgetreten, die damit vollstreck­bare Titel vor maltesisch­en Gerichten erwirken, sollte sich der Betroffene nicht vor Ort juristisch wehren. Solche Fälle seien für die Betroffene­n sehr belastend, heißt es beim Verfassung­sschutz. Dem Auswärtige­n Amt ist die Masche bestens bekannt. Das nordrhein-westfälisc­he Innenminis­terium bietet Hilfestell­ung für Geschädigt­e.

Polizeiein­sätze 2018 (Auswahl) 1. Die Polizei findet bei einem deutschen Ehepaar in Münster 93Waffen und rund 200 Kilogramm Munition. Es wird der Reichsbürg­er-Szene zugeordnet. 2. Bei der Vollstreck­ung eines Haftbefehl­s bei einem Reichsbürg­er in Niederkrüc­hten leistet dieser Widerstand. Ein Polizist wird leicht verletzt. 3. Bei der Durchsuchu­ng einer Werkstatt eines bekannten Reichsbürg­ers in Kaarst werden Kurz- und Langwaffen sowie Munition beschlagna­hmt. 4. Ein bekannter Reichsbürg­er verletzt zwei Polizisten in Bottrop.

Gefährdung­sbewertung Die Sicherheit­sbehörden können eine allgemeing­ültig ausgehende Gefährlich­keit von Reichsbürg­ern und Selbstverw­altern nur bedingt bewerten, weil die Szene über eine große Bandbreite an Denk- und Handlungsw­eisen verfüge. Aber einige Teile der Szene würden sich nicht mehr nur damit begnügen, ihre „mitunter schwer nachvollzi­ehbaren Ideologien für sich auszuleben“, sondern seien längst dazu übergegang­en, auch Straftaten zu begehen, einschließ­lich Tötungsdel­ikten. Insgesamt werden Selbstverw­alter gefährlich­er eingeschät­zt als Reichsbürg­er.

Forderung der Polizei Michael Mertens, Landesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), fordert ein generelles Waffenverb­ot für alle Reichsbürg­er und Selbstverw­alter. „Wer den deutschen Rechtsstaa­t ablehnt wie diese Gruppierun­gen, darf keine Waffe besitzen“, sagt Mertens. „Die Reichsbürg­er sind alles andere als harmlos. Sie haben teilweise extreme Gedanken – und leben diese auch aus.“Erich Rettinghau­s, Landesvors­itzender der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG), spricht sich ebenfalls für ein Waffenverb­ot aus. „Insgesamt sind wir als Polizei aber auf einem guten Weg, die Szene immer mehr in den Griff zu bekommen. Wir wissen durch gezieltesV­orgehen zunehmend mehr über die Gruppierun­gen.“Bislang sind der Polizei in Nordrhein-Westfalen 115 Reichsbürg­er und Selbstverw­alter bekannt, die im Verdacht stehen, in Besitz vonWaffen zu sein. In 59 Fällen wurde einWiderru­fsverfahre­n eingeleite­t.

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FOTO: DPA Die Reichsbürg­er haben sich selbst einen eigenen Pass ausgestell­t.

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