KULTURTIPPS
Chronik einer Kindheit in Comicform Lieder über das Küssen von der tollen Mitski Sanftmütig und grausam
Graphic Novel Das Erwachsenwerden eines Mädchens im Comic: Der französische Zeichner Riad Sattouf trifft sich jede Woche mit der kleinen Tochter von Bekannten und fragt sie über ihre Gedanken aus, über ihre Erlebnisse und ihre Sicht der Dinge. Aus den Berichten macht er kleine Geschichten, sehr lustig, sehr schlau, und die erscheinen dann gesammelt in Buchform. Man kann also einem Menschen beim Großwerden zusehen, und soeben sind auf Deutsch die ersten beiden Bände dieses Langzeitprojekts, das an den Film „Boyhood“erinnert, erschienen: „Esthers Tagebücher: Mein Leben als Zehnjährige“und „Esthers Tagebücher 2: Mein Leben als Elfjährige“. Esthers Blick ist naiv und zugleich kritisch, sie hadert mit ihrer Familie und liebt sie doch. Sie kommentiert den Alltag von ihrer Warte aus, und dadurch sieht man erst, wie absurd alles ist. Sehr schön. Philipp Holstein Pop Diese Künstlerin ist unglaublich, ihre neue Platte ist großartig, und wer beide nicht kennt, bringt sich um das allergrößte Vergnügen. Mitski heißt diese Musikerin. Sie ist 27, ihre Mutter ist Japanerin, der Vater Amerikaner, und bevor die Familie in New York zur Ruhe kam, zog sie um die halbe Welt. Davon erzählt Mitski in ihren Liedern; davon, wie es ist, ständig neu ankommen zu müssen und zwischen zwei Kulturen zu leben. Sie tut das so, als erzähle sie es nur ganz wenigen, im Grunde nur demjenigen, der gerade zuhört. Mitski hören ist etwas sehr Intimes, sie behandelt ihre Zuhörer nämlich wie Freunde, man fühlt sich bei ihr gleich zuhause.
„Be The Cowboy“heißt das inzwischen fünfte Album von Mitski.
Die ersten beiden nahm sie auf eigene Faust auf, und das vierte, das unter dem Titel „Puberty 2“vor zwei Jahren erschienen ist, war ein Meisterwerk. Das war Indie-Pop zwischen Lorde und St. Vincent. Im Mittelpunkt stand eine verzerrte Gitarre, die klang, als habe Mitski sie sich von Liz Phair geborgt. Dazu sang sie über die Liebe und ihre Farben und Stimmungen, Buch Marie Lina und ihr Mann führen ein unaufgeregtes Leben in Amsterdam. Er ist Vogelvertreiber am Flughafen, und wenn er erschöpft vom Schichtdienst in das Familiennest krabbelt, ist er schlicht zufrieden, so wie es ist. Doch obwohl es dafür keinerlei Anzeichen gibt, lodert in Marie Lina ein alter Zorn, eine stille Wut, die so viel Macht besitzt, dass sie all die wohlige Selbstverständlichkeit einer Familie zerstören kann. Die Niederländerin Margriet de Moor erzählt in „Von Vögeln und Menschen“mit trügerischer Sanftmut von der Grausamkeit, die im Menschen schlummert. Mit kalter Ruhe schichtet sie die Erzählebenen ihres raffiniert konstruierten Kriminalromans, bis sich aus scheinbar entfernten Episoden ein Gesamtbild ergibt. Die Sprache der Autorin ist gelassen, schnörkellos, höchst präzise. Mit derselben Genauigkeit entwickelt sie die psychischen Verfasstheiten ihrer Figuren – und das tragische Geschehen nimmt seinen Lauf.
Dorothee Krings über romantische Liebe und das Verliebtsein, übers Verlassenwerden und das Unglücklichsein. Wer nun allerdings denkt, Mitski würde jammern, der liegt falsch. Sie ist so lässig und cool und dabei so empathisch und sympathisch, dass sich das Über-Liebe-Sprechen plötzlich neu und ungehört anfühlt.
„Be The Cowboy“ist musikalisch noch reifer, jedes dieser 14 im Schnitt zweieinhalb Minuten langen Lieder klingt anders. In „Me And My Husband“grüßen von Ferne die Beatles, in dem total tollen „Why Didn’t You Stop Me“meint man das Yellow Magic Orchestra zu hören. „Nobody“ist Glitzer-Disco pur, und das letzte Lied ist das schönste, es handelt von einem alten Paar, das einsam irgendwo tanzt. „I just need someone to kiss“, ruft Mitski.
Ein Album über den Sinn des Lebens. Philipp Holstein