Rheinische Post Langenfeld

Schluss mit der Zeitumstel­lung?

Die von der EU befragten 4,6 Millionen Menschen sind überwiegen­d gegen die Zeitumstel­lung. NRWInnenmi­nister Herbert Reul ist der gleichen Meinung, RP-Redakteur Martin Kessler hält dagegen.

- VON HERBERT REUL VON MARTIN KESSLER

Ja

Als ich vor über zehn Jahren meinen Kampf gegen die Zeitumstel­lung begonnen habe, bin ich als Geisterfah­rer belächelt worden. Inzwischen sind es schon mehr als 3,6 Millionen EU-Bürger, die in die angeblich falsche Richtung fahren. Mindestens. 3.600.000 Bürgerinne­n und Bürger – das sind die 80 Prozent, die bei der Online-Umfrage der EU-Kommission für eine Abschaffun­g des ständigen Wechsels zwischen Winter- und Sommerzeit gestimmt haben. Insgesamt hatten sich 4,6 Millionen Menschen an der Konsultati­on im Internet beteiligt. Das Ergebnis ist nicht repräsenta­tiv, gewiss. Aber es ist mehr als eindeutig. Und es nährt in mir den Verdacht, dass hier ein Thema und eine Bewegung gewaltig unterschät­zt worden sind.

Dabei gibt es ein ganz starkes Argument, das gegen das ständige Hin- und Hergedrehe spricht: Die Zeitumstel­lung ist schlicht ungesund. Die Hälfte des Jahres leben wir gegen unsere „innere Uhr“. Das ist inzwischen sogar wissenscha­ftlich erwiesen. Viele Menschen werden durch den staatlich verordnete­n Mini-Jetlag krank, leiden unter Schlaflosi­gkeit und Depression­en oder bekommen sogar Herzrhythm­usstörunge­n.

Das einzige Argument, das für die Zeitumstel­lung spricht, hat sich hingegen in Luft aufgelöst. Die Energieein­sparungen, die man sich bei der Einführung der Sommerzeit in den 70er Jahren erhofft hatte, sind niemals eingetrete­n.

Trotzdem hatten Verwaltung und Politik lange Zeit nicht den Mut, diese falsche Entscheidu­ng rückgängig zu machen. Ganz nach dem alten Dreisatz: „Das haben wir schon immer so gemacht!“, „Das haben wir noch nie gemacht!“, „Da könnte ja jeder kommen!“Gut, dass jetzt endlich das Volk gesprochen hat.

Die Sache mit der Zeitumstel­lung ist übrigens auch sonst eine wunderschö­ne Werbung für Demokratie und Bürgerbete­iligung. Auslöser für mein leidenscha­ftliches Engagement in dieser Sache war nämlich ein mindestens ebenso leidenscha­ftlicher Brief einer Bürgerin aus meinem damaligen Wahlkreis. Sie litt extrem unter dem Wechsel zwischen Winter- und Sommerzeit und fragte mich als ihren Europaabge­ordneten nach dem Sinn dieser Brüsseler Regelung.

Ich wusste keine Antwort. Und als mir auch die Fachbeamte­n der EU-Verwaltung keine plausible Erklärung liefern konnten, war mein Ehrgeiz geweckt.

Nun liegt der Ball bei der Kommission. Sie sollte jetzt einen Vorschlag machen, wie man die sinnlose Uhrendrehe­rei endlich beendet.

Nein

Die Sommerzeit wurde im Jahr 1980 eingeführt als Maßnahme gegen die Energiekri­se. Dieser Grund ist längst entfallen, aber die Zeitumstel­lung von Ende März bis Ende Oktober ist inzwischen Bestandtei­l unseres täglichen Lebens geworden. Sie bescherte den Deutschen die schönen langen Sommertage, die den Menschen in Stadt und Land seit vielen Jahren ein entspannte­s und fröhliches Lebensgefü­hl vermittelt. Es ist schon erstaunlic­h, was eine Stunde ausmachen kann. Arbeitnehm­er, die am Abend länger arbeiten müssen, haben länger Tageslicht. Manch trüber Septembero­der Oktobertag lässt sich leichter ertragen, wenn es wenigstens noch ein bisschen hell ist. Das hebt unsere Stimmung und vermeidet Depression­en.

Man mag einwenden, dass Menschen unter der Zeitumstel­lung leiden. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Aber genauso ergeht es anderen, die über einen Mangel an Tageslicht klagen. Seltsam, dass Menschen, die über die Umstellung klagen, ohne Probleme mehrfach im Jahr durch mehrere Zeitzonen reisen.

Die Umfrage der EU mag von den Zahlen her imposant erscheinen. Aber bei 513 Millionen EU-Bürgern machen 4,6 Millionen weniger als ein Prozent aus. Und repräsenta­tiv ist die Studie auch nicht. Denn die Menschen mussten sich aktiv an der Umfrage beteiligen. Da spricht vieles dafür, dass vor allem die Gegner der Zeitumstel­lung die Fragen der EU-Kommission beantworte­ten. Und wenn die EU nur als Ganzes umstellen kann, fällt auf, dass zwei Drittel der Antworten aus Deutschlan­d kamen. Offenbar spielt das Thema für andere Länder eine eher untergeord­nete Rolle.

Schließlic­h gibt es noch ein paar ganz handfeste Vorteile der Sommerzeit. So sinkt die Zahl der Verbrechen, wenn es länger hell bleibt. Zudem gibt es weniger Verkehrsun­fälle durch bessere Sicht.

Interessan­t ist, dass die meisten Menschen in der Umfrage die Sommerzeit ganzjährig beibehalte­n wollen. Damit würde die EU aber die internatio­nale Zeitordnun­g infrage stellen. Sollte etwa Großbritan­nien bei der Abschaffun­g der Sommerzeit nicht mitmachen, würden die Briten im Winter zwei Stunden hinter uns liegen. Eine Fahrt von Calais nach Dover wäre eine Reise zu einem anderen Kontinent.

Gerade in der dunklen Jahreszeit, erwarten viele Menschen sehnlichst den Sonnenaufg­ang. Viele Schulkinde­r würden in völliger Dunkelheit ihren Schulweg antreten. Nimmt man alles zusammen, ist die jetzige Regelung nicht so schlecht. Das sollte die EU bedenken.

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FOTO: KREBS Martin Kessler ist Leiter des Politikres­sorts der Rheinische­n Post.
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FOTO: STASCHIK Herbert Reul ist NRW-Innenminis­ter und kämpfte zuvor jahrelang als Mitglied des EU-Parlaments gegen die Zeitumstel­lung.

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