War’s das jetzt?
Fast 70.000 Menschen waren gekommen, um beim „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz ein Zeichen gegen Rechts zu setzen. Betrachtungen zu den Nachwirkungen eines besonderen Abends, zu Faschisten, Antifaschisten und Schulterschlüssen.
CHEMNITZ Sie hofften auf 20.000, um es den Rechten mal richtig zu zeigen. „Wir werden die Straßen nicht den Nazis überlassen“, wiederholten die Künstler auf der Bühne immer wieder an diesem Abend, an dem immer mehr Menschen in die sächsische Stadt mit den aufschreckenden rechtsextremistischen Ausschreitungen strömten. Und dann wurden es nicht 20.000, nicht 40.000, sondern annähernd 70.000, die der Welt zeigten, wo in Deutschland der Hammer hängt. Immer wieder skandierte die Menge während des Konzertes „Nazis raus! Nazis raus!“Und? Sind sie nun raus? War’s das mit dem rassistischen Spuk?
Das gute Gefühl bei den fast 70.000 wird bleiben, einmal vor einem Millionen-Publikum gezeigt zu haben, wer mehr auf die Straßen bringt. Der Nieselregen hörte rechtzeitig auf, die September-Temperaturen waren auch nach Einbruch der Nacht noch angenehm und das Konzert gab es gratis – es war für Zehntausende eine wunderbare Symbiose von Festivalgenuss und politischem Statement.
Doch 70.000 sind 70.000. Ihre Feier war keine Wahlentscheidung, die bleibende Verantwortungsmehrheiten kreiert. Bei den Landtagswahlen in einem Jahr sind über 3,3 Millionen Sachsen wahlberechtigt. Bei den Bundestagswahlen war die AfD hier stärkste Partei. Sie wird die Versuche, die Republik von Rechts aufzurollen, unter dem Eindruck des Konzertes kaum einstellen.
Ganz im Gegenteil: Viele können mit der Unterteilung der Bevölkerung in gute Antifaschisten und böse Faschisten nicht viel anfangen. Vor allem, wenn die „Guten“weit in den linksextremistischen Rand hineinragen und die vielen Kämpfer gegen Rechts nichts dabei finden, linke Randale in den Kampf gegen „Nazis“einzubeziehen. So wurden die Besucher in Chemnitz zur Solidarität mit den Hambacher-Forst-Besetzern aufgefordert. Im rheinischen Braunkohlerevier bahnt sich aber ein Szenario wie am Rande der G-20-Krawalle von Hamburg an. Wie sollen mit solchem Schulterschluss aufgebrachte Chemnitzer davon überzeugt werden, sich von Demos der AfD fernzuhalten? Vielleicht gelänge das mit dem Hinweis auf die „Wirsind-mehr“-Konzerte, die die Szene spontan nach den Ausschreitungen in Hamburg auf die Beine stellte. Aber, ach ja, da war ja nichts.
Wie es in Teilen um die Solidarität mit der gefährdeten Demokratie bestellt ist, entlarvte die Distanzierung einer Band von Außenminister Heiko Maas und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die hatten es gewagt, für das Konzert zu werben. Aber innerhalb der ganz linken Szene mag man keine Nähe zu den Repräsentanten der Demokratie. Bei solchen Prioritäten wird das politische Statement problematisch.
Die Weimarer Republik krankte daran, dass die Ränder immer stärker wurden und die Demokraten schnell die Mehrheit verloren. So weit sind wir in der Bundesrepublik noch nicht. Aber die Mitte schweigt. Es kann fatal sein, wenn die einen Demokraten sich unkritisch auf die Seite von Rechtsaußen stellen und die anderen Demokraten nicht minder unkritisch die Sache von Linksaußen stärken. Es fehlt das sichtbare Bekenntnis jener großen Mitte, die in Familien und Betrieben diesen Staat trägt.
NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP), der sechs Jahre in Sachsen lebte und gegen den Pegida-Ableger Legida protestierte, weiß, wie schwer die demokratische Mitte auf die Straße zu holen ist. „Die Mitte der Gesellschaft ist mobilisierbar,“sagte er beim Campfire-Festival in Düsseldorf. Und fügte hinzu: „Aber nicht jeden Montag.“
Sabine und Daniel Röder haben indes gezeigt, wie aus einer kleinen Idee eine beachtliche Bewegung werden kann. Die beiden Frankfurter hatten sich über den Brexit und die Wahl Donald Trumps so geärgert, dass sie die verborgene breite Zustimmung der Menschen zum Projekt der Europäischen Union auf die Straße brachten. Inzwischen verfügt der „Pulse of Europe“über eine Geschäftsstelle und örtliche Organisationen in vielen Städten Deutschlands und Europas.
Braucht die Republik also einen Impuls für Demokratie, gestartet aus der Mitte der Gesellschaft? Als die Publizistin Liane Bednarz unter dem Eindruck des Chemnitzer Großkonzertes im Sozialen Netzwerk Twitter eine „Veranstaltung der Zivilgesellschaft“ vorschlug, bei der die Menge nicht dazu aufgerufen wird, „Alerta, alerta, Antifaschista“zu rufen, erntete sie wüste Beschimpfungen. Vor allem Linke wollen sich das wohlige Gefühl des überwölbenden Antifaschismus nicht nehmen lassen. Wie viel sie aus den Millionen Opfern des Antifaschisten Stalin und des Antifaschisten Mao gelernt haben, wird wohl so schnell nicht ins Blickfeld geraten, so lange sich das Böse so bequem rechtsaußen verorten lässt.
Eindeutig: Sie waren mehr in Chemnitz. Aber sie müssen auch von Dauer sein. Auch im Winter. Auch im Regen. Und vor allem müssen sie klug werden.