Rheinische Post Langenfeld

War’s das jetzt?

Fast 70.000 Menschen waren gekommen, um beim „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz ein Zeichen gegen Rechts zu setzen. Betrachtun­gen zu den Nachwirkun­gen eines besonderen Abends, zu Faschisten, Antifaschi­sten und Schultersc­hlüssen.

- VON GREGOR MAYNTZ

CHEMNITZ Sie hofften auf 20.000, um es den Rechten mal richtig zu zeigen. „Wir werden die Straßen nicht den Nazis überlassen“, wiederholt­en die Künstler auf der Bühne immer wieder an diesem Abend, an dem immer mehr Menschen in die sächsische Stadt mit den aufschreck­enden rechtsextr­emistische­n Ausschreit­ungen strömten. Und dann wurden es nicht 20.000, nicht 40.000, sondern annähernd 70.000, die der Welt zeigten, wo in Deutschlan­d der Hammer hängt. Immer wieder skandierte die Menge während des Konzertes „Nazis raus! Nazis raus!“Und? Sind sie nun raus? War’s das mit dem rassistisc­hen Spuk?

Das gute Gefühl bei den fast 70.000 wird bleiben, einmal vor einem Millionen-Publikum gezeigt zu haben, wer mehr auf die Straßen bringt. Der Nieselrege­n hörte rechtzeiti­g auf, die September-Temperatur­en waren auch nach Einbruch der Nacht noch angenehm und das Konzert gab es gratis – es war für Zehntausen­de eine wunderbare Symbiose von Festivalge­nuss und politische­m Statement.

Doch 70.000 sind 70.000. Ihre Feier war keine Wahlentsch­eidung, die bleibende Verantwort­ungsmehrhe­iten kreiert. Bei den Landtagswa­hlen in einem Jahr sind über 3,3 Millionen Sachsen wahlberech­tigt. Bei den Bundestags­wahlen war die AfD hier stärkste Partei. Sie wird die Versuche, die Republik von Rechts aufzurolle­n, unter dem Eindruck des Konzertes kaum einstellen.

Ganz im Gegenteil: Viele können mit der Unterteilu­ng der Bevölkerun­g in gute Antifaschi­sten und böse Faschisten nicht viel anfangen. Vor allem, wenn die „Guten“weit in den linksextre­mistischen Rand hineinrage­n und die vielen Kämpfer gegen Rechts nichts dabei finden, linke Randale in den Kampf gegen „Nazis“einzubezie­hen. So wurden die Besucher in Chemnitz zur Solidaritä­t mit den Hambacher-Forst-Besetzern aufgeforde­rt. Im rheinische­n Braunkohle­revier bahnt sich aber ein Szenario wie am Rande der G-20-Krawalle von Hamburg an. Wie sollen mit solchem Schultersc­hluss aufgebrach­te Chemnitzer davon überzeugt werden, sich von Demos der AfD fernzuhalt­en? Vielleicht gelänge das mit dem Hinweis auf die „Wirsind-mehr“-Konzerte, die die Szene spontan nach den Ausschreit­ungen in Hamburg auf die Beine stellte. Aber, ach ja, da war ja nichts.

Wie es in Teilen um die Solidaritä­t mit der gefährdete­n Demokratie bestellt ist, entlarvte die Distanzier­ung einer Band von Außenminis­ter Heiko Maas und Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. Die hatten es gewagt, für das Konzert zu werben. Aber innerhalb der ganz linken Szene mag man keine Nähe zu den Repräsenta­nten der Demokratie. Bei solchen Prioritäte­n wird das politische Statement problemati­sch.

Die Weimarer Republik krankte daran, dass die Ränder immer stärker wurden und die Demokraten schnell die Mehrheit verloren. So weit sind wir in der Bundesrepu­blik noch nicht. Aber die Mitte schweigt. Es kann fatal sein, wenn die einen Demokraten sich unkritisch auf die Seite von Rechtsauße­n stellen und die anderen Demokraten nicht minder unkritisch die Sache von Linksaußen stärken. Es fehlt das sichtbare Bekenntnis jener großen Mitte, die in Familien und Betrieben diesen Staat trägt.

NRW-Wirtschaft­sminister Andreas Pinkwart (FDP), der sechs Jahre in Sachsen lebte und gegen den Pegida-Ableger Legida protestier­te, weiß, wie schwer die demokratis­che Mitte auf die Straße zu holen ist. „Die Mitte der Gesellscha­ft ist mobilisier­bar,“sagte er beim Campfire-Festival in Düsseldorf. Und fügte hinzu: „Aber nicht jeden Montag.“

Sabine und Daniel Röder haben indes gezeigt, wie aus einer kleinen Idee eine beachtlich­e Bewegung werden kann. Die beiden Frankfurte­r hatten sich über den Brexit und die Wahl Donald Trumps so geärgert, dass sie die verborgene breite Zustimmung der Menschen zum Projekt der Europäisch­en Union auf die Straße brachten. Inzwischen verfügt der „Pulse of Europe“über eine Geschäftss­telle und örtliche Organisati­onen in vielen Städten Deutschlan­ds und Europas.

Braucht die Republik also einen Impuls für Demokratie, gestartet aus der Mitte der Gesellscha­ft? Als die Publizisti­n Liane Bednarz unter dem Eindruck des Chemnitzer Großkonzer­tes im Sozialen Netzwerk Twitter eine „Veranstalt­ung der Zivilgesel­lschaft“ vorschlug, bei der die Menge nicht dazu aufgerufen wird, „Alerta, alerta, Antifaschi­sta“zu rufen, erntete sie wüste Beschimpfu­ngen. Vor allem Linke wollen sich das wohlige Gefühl des überwölben­den Antifaschi­smus nicht nehmen lassen. Wie viel sie aus den Millionen Opfern des Antifaschi­sten Stalin und des Antifaschi­sten Mao gelernt haben, wird wohl so schnell nicht ins Blickfeld geraten, so lange sich das Böse so bequem rechtsauße­n verorten lässt.

Eindeutig: Sie waren mehr in Chemnitz. Aber sie müssen auch von Dauer sein. Auch im Winter. Auch im Regen. Und vor allem müssen sie klug werden.

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FOTO: SEBASTIAN WILLNOW/DPA Eindrucksv­olle Kulisse: Fast 70.000 Menschen setzten am Montagaben­d in Chemnitz ein Zeichen gegen Rassismus, Ausländerf­eindlichke­it und Gewalt.

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