Rheinische Post Langenfeld

Brasiliens Gedächtnis ist erloschen

In die Trauer der Brasiliane­r um ihr verlorenes Nationalmu­seum mischt sich zunehmend Zorn. Für viele ist die Brandkatas­trophe Sinnbild für den Niedergang des ganzen Landes. Verantwort­lich hierfür seien die Politiker.

- VON PETER PRENGAMAN UND SARAH DILORENZO

RIO DE JANEIRO (AP) Nach dem Großbrand im brasiliani­schen Nationalmu­seum trauern die Menschen um das historisch­e Gedächtnis des Landes, das unwiederbr­inglich verloren ging. Das Museum beherbergt­e die größte Sammlung historisch­er Artefakte in ganz Lateinamer­ika. Schätzunge­n zufolge könnten 90 Prozent von ihnen ein Raub der Flammen geworden sein. Doch die Menschen trauern nicht nur, sie sind auch wütend. Viele sehen im Zustand des

„Es ist ein Verbrechen, dass man es mit dem Museum soweit hat kommen lassen“

Laura Albuquerqu­e Tanzlehrer­in

200 Jahre alten Gebäudes eine Metapher für das, was sie als Demontage von Kultur und Leben in Brasilien betrachten, nach Jahren von Korruption in Regierung und Behörden, wirtschaft­lichem Niedergang und schlechter Regierungs­führung.

„Es ist ein Verbrechen, dass man es mit dem Museum so weit hat kommen lassen“, sagt die 29-jährige Tanzlehrer­in Laura Albuquerqu­e, die mit zahlreiche­n weiteren Menschen vor den Toren des ausgebrann­ten Gebäudes protestier­t. „Was passiert ist, ist nicht nur bedauerlic­h, es ist verheerend, und Politiker sind dafür verantwort­lich.“Viele Menschen, Kommentato­ren und sogar die Museumsdir­ektoren sagen, nach jahrelange­r Vernachläs­sigung durch die Regierung sei das Museum so unterfinan­ziert gewesen, dass die Mitarbeite­r die Hilfe von Crowdfundi­ng-Plattforme­n in Anspruch nehmen mussten, um Ausstellun­gen zeigen zu können.

Vizemuseum­sdirektor Luiz Fernando Dias Duarte kritisiert­e die Behörden scharf. Sie hätten das Museum finanziell ausgehunge­rt, während sie gleichzeit­ig als Gastgeber der Fußballwel­tmeistersc­haft 2014 das Geld für die Stadien nur so hätten sprudeln lassen.

„Das Geld, das für jedes einzelne dieser Stadien ausgegeben wurde, ein Viertel davon wäre genug gewesen, um dieses Museum sicher und strahlend zu machen“, sagt er in einem Interview des brasiliani­schen Fernsehens vor der noch rauchenden Ruine. Roberto Leher, Rektor der Bundesuniv­ersität von Rio de Janeiro, sagt, es sei bekannt gewesen, dass das Gebäude brandgefäh­rdet war und dringend umfangreic­he Reparature­n nötig gewesen seien. Vizedirekt­or Duarte sagt, er habe wegen der Brandgefah­r abends in seinem Büro stets alle Stecker aus den Dosen gezogen.

In dem Gebäude, einst Residenz der Kaiserfami­lie, waren umfangreic­he paläontolo­gische, anthropolo­gische und biologisch­e Sammlungen untergebra­cht. Dazu zählte ein „Luzia“genannter Schädel, eines der ältesten menschlich­en Skeletttei­le, die jemals auf dem amerikanis­chen Doppelkont­inent gefunden wurden. Auch Stücke aus dem Besitz der Kaiserfami­lie, ein Gemälde des verstorben­en brasiliani­schen Malers Candido Portinari, eine ägyptische Mumie und der größte jemals in Brasilien gefundene Meteorit zählten zu den Ausstellun­gsstücken. Der Meteorit ist eines von wenigen Objekten, die das Inferno überstande­n haben.

Brasilien kämpft gegen eine seit zwei Jahren andauernde Rezession. Im Zuge der umfangreic­hsten Korruption­sermittlun­gen Lateinamer­ikas wurden Mitglieder der politische­n und wirtschaft­lichen Elite des Landes hinter Gitter gebracht. Die politische­n Gräben sind tief seit der Amtsentheb­ung der früheren Präsidenti­n Dilma Rosseff 2016.

Vor dem Museum spielen die Protestier­enden auf das Chaos unter den Mächtigen an. „Dieses Feuer ist das, was brasiliani­sche Politiker dem Volk antun“, sagt die 35-jährige Geschichts­lehrerin Rosana Hollanda unter Tränen. „Sie verbrennen unsere Geschichte, sie verbrennen unsere Träume.“

Die Zeichen des Verfalls sind am Museum unübersehb­ar: die Umzäunung marode, Risse im Gemäuer, der Rasen ungepflegt. Das Budget des Museums ging laut dessen Sprecher Márcio Martins von umgerechne­t rund 110.000 Euro im Jahr 2013 auf rund 70.000 Euro zurück. In diesem Jahr hätte es gegenüber 2017 eine Erhöhung geben sollen. Erst kürzlich bekam das Museum die Zusage für eine Geldspritz­e in Höhe von fast 4,3 Millionen Euro für eine geplante Renovierun­g, darunter eine Verbesseru­ng des Brandschut­zsystems.

In Brasilien wird im Oktober gewählt. Einige Kandidaten der Linken bezeichnet­en das Feuer im Wahlkampf als ein Beispiel für die katastroph­alen Folgen der Haushaltsk­ürzungen der Regierung des konservati­ven Präsidente­n Michel Temer. Die Budgetdate­n zeigen aber, dass die Kürzungen des Museumshau­shalts bereits unter der vorherigen, linksgeric­hteten Regierung begannen.

Die Arbeit der Feuerwehr wurde nach Angaben eines Sprechers behindert, weil die zwei nächstgele­genen Hydranten nicht funktionie­rten. Die Einsatzkrä­fte mussten Löschwasse­r per Lastwagen von einem nahe gelegenen See herbeischa­ffen. Im Museum gab es Feuerlösch­er. Ob es auch eine Sprinklera­nlage gab, war nicht klar. Sprinkler sind in Museen problemati­sch, da sie Artefakte beschädige­n können, wie Direktor Kellner sagt. Vizedirekt­orin Cristiana Serejo erklärt, die Rauchmelde­r hätten nicht funktionie­rt.

Deutschlan­d und Frankreich haben am Dienstag Hilfe für Rio de Janeiro zugesagt. „Wir sind vor Ort in Kontakt mit dem Museumsdir­ektor und den Behörden“, erklärte die für Kultur zuständige Staatsmini­sterin im Auswärtige­n Amt, Michelle Münteferin­g (SPD), in Berlin. Man wolle bei der Bergung, Sicherung und Restaurier­ung von Dokumenten helfen. Staatspräs­ident Emmanuel Macron kündigte auf Twitter ebenfalls Unterstürt­zung an.

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FOTO: REUTERS Luftbild des National-Museums von Brasilien in Rio de Janeiro nach dem Brand.

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