Rheinische Post Langenfeld

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ich verstand die ganze Zeit nicht, warum Vater Dirk nicht einfach seine Fläschchen geben und frische Windeln machen konnte. Als ich das sagte, guckte Vater mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

„Ich bin ein Mann!“

Und dann war doch noch alles irgendwie geregelt worden.

Maslows hatten keinen Fernsehapp­arat, und Mutter hatte Fräulein Maslow so lange von Peter Frankenfel­d und seiner Sendung „Vergißmein­nicht“vorgeschwä­rmt, in der Geld für Menschen gesammelt wurde, denen es nicht so gutging, bis sie ganz erpicht darauf war, sie zu sehen.

Sie würde hier sein, Dirk am Nachmittag versorgen, ihn um zehn Uhr noch einmal wickeln und ihm das letzte Fläschchen für die Nacht geben. Danach würde ihr Bruder sie mit dem Auto abholen.

Und Vater würde neben Dirk in Pfaffs altem Ehebett schlafen. Obwohl er ein Mann war.

„Einer wird gewinnen“war so aufregend, dass ich heiße Backen kriegte. Und ich nahm mir heimlich vor, auch mal Studentin zu werden und ganz viel zu wissen.

Als in der Pause zwischen den Ratespiele­n das Rundfunkor­chester spielte, machte Mutter mir heiße Milch mit Honig.

„Liesel hat übrigens eine Geburtstag­süberrasch­ung für dich. Und für Barbara.“

„Barbara hat gar nicht Geburtstag!“„Das ist doch egal. Für euch beide zusammen ist es noch schöner, warte nur ab.“

Onkel Maaßen wollte uns am Samstag nach dem Mittagesse­n abholen.

Eigentlich hatten wir mit seinem neuen Auto fahren sollen, aber das war nicht rechtzeiti­g geliefert worden.

In seinen himmelblau­en französisc­hen Sportwagen hätten wir vier zwar reingepass­t, aber es wäre nicht sehr bequem gewesen. Außerdem wollte Onkel Maaßen Liesels Kleider hängend transporti­eren, damit sie nicht im letzten Moment noch Falten bekamen.

Deshalb hatte er sich für diesen Tag den Wagen von seinem jüngeren Bruder ausgeliehe­n, der auch gern schnelle Autos fuhr, einen weißen BMW.

Mutter hatte eins von Vaters Lieblingse­ssen gekocht: Erbsensupp­e mit Schweinepf­ötchen. Und es gab Nachtisch, den es sonst eigentlich nur sonntags gab, Zwetschen, eingeweckt mit Zimt und einem Schuss Essig, so wie Vater sie besonders gern mochte.

Für Dirk, der seit ein paar Wochen mittags kein Fläschchen mehr bekam, hatte sie Möhrchen und Kartoffeln gekocht und mit einem Stück guter Butter verknetet.

Das konnte auch ich essen – wenn ich nicht auf die Schweinefü­ße guckte.

Fräulein Maslow war rechtzeiti­g da, um Dirk zu füttern. Das machte sie wirklich gut. Sie redete nett mit ihm, und er hörte ihr zu und schluckte brav runter. Kein Gehampel, keine Ferkelei.

Sie hatte tatsächlic­h Erfahrung mit kleinen Kindern, und ich war beruhigt.

Vater sagte nicht „Tschüs, bis heute Abend“.

Er sagte gar nichts.

Barbara mit der burschikos­en Kurzhaarfr­isur und ich mussten auf der Rückbank dicht zusammenrü­cken, denn an der Seite hingen sechs Kleidersäc­ke. Nicht vier, wie ich erwartet hatte, Liesel musste noch etwas nachbestel­lt haben.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, Barbara wohl auch nicht, also schauten wir beide aus dem Fenster.

Mutter zündete für Onkel Maaßen die Zigaretten an.

Ich hatte Mutter noch nie mit einer Zigarette zwischen den Lippen gesehen, weil evangelisc­he Frauen nicht rauchten.

Sie lachte auch viel.

„Heute Abend gehen wir in ein Lokal“, sagte ich irgendwann.

„Ich weiß.“Barbara schaute weiter aus dem Fenster.

„Warst du schon mal zum Essen in einem Lokal?“

„Natürlich.“

Ich wollte mich nicht blöd fühlen. „Ich habe Beatlespla­tten.“

In der Schule fanden das alle toll, und Gabi hatte mich schon ein paarmal zu sich nach Hause eingeladen, aber ich wollte nicht hin. Gabis Vater war Doktor, und womöglich würde es bei denen zu Hause so sein wie bei dem Dr. General und seiner guten Helene.

Barbara machte nur: „Tsss.“„Kennst du die ,Bravo’?“

Alle Mädchen in der fünften und sechsten Klasse lasen die Zeitschrif­t, sogar Gabi und Klara aus der vierten, und ich hatte mir schon öfter die Fotos und die Berichte über die „Beatles“angeguckt.

Onkel Maaßen vorn hatte mich wohl gehört.

„Billiger Schund“, knurrte er. „So was kommt mir nicht ins Haus.“Er drehte sein Gesicht zu Mutter. „Und ich hoffe doch sehr, dir auch nicht.“

Ich konnte nur Mutters Hinterkopf sehen, aber ich wusste, dass sie jetzt Zirkelflec­ken am Hals hatte.

Und dann kamen wir endlich in Köln an, wo es Tausende von Autos gab und furchtbar schlecht roch.

Ich war schon einmal in der Wohnung von Tante Liesel und Onkel Karl-Dieter gewesen, aber das war lange her, Omma hatte noch gelebt.

Damals hatten Mutter und ich auf einer Klappcouch geschlafen. Mir hatte das Wort so gut gefallen: „Klappcouch“.

Eigentlich hatten die beiden keine richtige Wohnung, nur ein großes Zimmer, in dem alles mit Vorhängen abgetrennt war, Bett und Kleidersch­rank, Kochherd und Spüle. Und im Badezimmer gab es keine Wanne, nur ein Duschbecke­n mit einem Plastikvor­hang – das hatte ich noch nie gesehen – und eine zweite Tür, die ins Büro führte.

Onkel Maaßen hielt erst einmal am Straßenran­d an.

Manches war wie früher: der große Hof, links die Produktion­shalle, rechts eine lange Baracke, in der zur Straße hin Tante Liesels „Apartment“untergebra­cht war, dahinter das Büro für Liesel und Herrn Thomas, dann kamen der Aufenthalt­sraum und die Umkleide für die Arbeiter.

Der Hof war immer noch matschig, und dort standen auch immer noch die Transporte­r, die Autos von Onkel Karl-Dieter und Tante Liesels hellblaues Käfer-Cabrio, mit dem sie nie fuhr, weil sie keine Zeit hatte, den Führersche­in zu machen.

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