Rheinische Post Langenfeld

Der perfekte Sommerferi­entag

Die letzten Texte aus dem Nachlass von Wolfgang Herrndorf („Tschick“) sind großartig.

- VON PHILIPP HOLSTEIN Info

DÜSSELDORF Die ersten 30 Seiten dieses Buchs sind das Allerherrl­ichste überhaupt, und als Beleg sei nur die Stelle genannt, an der der Ich-Erzähler fünf Jahre alt ist und das erste Mal seine Freundin Katharina Rage besucht: „Katharinas Mutter kämmte ihr die Haare. Sie waren lang und glatt, bevor sie gekämmt wurden, und sie waren lang und glatt hinterher.“

Wolfgang Herrndorf hat das geschriebe­n, der Wolfgang Herrndorf, von dem auch „Tschick“ist, jener Roman, den man im Regal am besten zwischen „Huckleberr­y Finn“und „Faserland“stellt. Eigentlich hat der Schriftste­ller vor seinem Freitod 2013 verfügt, dass nichts aus seinem Nachlass erscheinen solle, und daran halten sich seine Herausgebe­r auch. Die Texte, die nun unter dem Titel „Stimmen“versammelt sind und zu dem auch der über Katharina Rage gehört, wurden von Herrndorf noch selbst für den Druck eingericht­et. Sie sind erstmals im Internetfo­rum „Wir höflichen Paparazzi“erschienen, wo Herrndorf unter verschiede­nen Pseudonyme­n veröffentl­ichte. Zwischen 2001 und 2009 war das, also bevor seine Krebserkra­nkung ausgebroch­en ist.

Knapp 200 Seiten umfasst nun der Band, der die definitiv letzten „neuen“Stücke von Herrndorf enthält, wie die Herausgebe­r Marcus Gärtner und Cornelius Reiber versichern. Es gibt darin sehr lustige Erzählunge­n, die grob gesagt vom Lebensgefü­hl in Berlin um die Jahrtausen­dwende handeln, dann sarkastisc­he Reflexione­n über das Leben im Allgemeine­n und die Literaturs­zene im Besonderen, außerdem ein Dramolett und einige Gedichte. Und dann sind da Erzählunge­n, die auf halber Strecke zwischen autobiogra­fisch und fiktional angesiedel­t sind – und genau die sind die besten.

Es geht um Kindheitse­rinnerunge­n, es ist Sommer, „der Himmel von Licht gesprenkel­t“. Herrndorf braucht oft nur einen Satz, um die Atmosphäre in einer bestimmten Lebensphas­e greifbar zu machen, und dieser hier ist einer davon: „Drei Uhr nachmittag­s war keine gute Zeit, nie war das eine gute Zeit, es war immer eine beschissen­e Zeit.“Und wie in „Tschick“schreibt er über Dreizehnjä­hrige nicht wie ein Erwachsene­r, der jetzt halt über Dreizehnjä­hrige schreibt. Sondern mit großer Aufrichtig­keit und dieser Echtheit, die nur jemand vermittelt, der in seinem Herzen ein Dreizehnjä­hriger geblieben ist: „Michel wohnte im selben Haus wie wir, und er hatte eine Freundin namens Sylvie, von der ich anfangs nicht wusste, dass sie schön war.“

Und darum geht es ja bei Herrndorf, dass da einer die Schönheit entdeckt, und zwar dort, wo man meistens nicht so genau hinschaut, weil man sie da gar nicht vermutet – nämlich vor der eigenen Haustür, wie man so sagt. Manchmal stößt der Erzähler dieser Texte so unvermitte­lt auf die Schönheit, dass es ihm den Stecker zieht, und dann versucht er, sie zu bergen und zu beschützen, und damit nimmt er sich die Chance auf noch größere Schönheit, was romantisch ist, auf jeden Fall aber rührend, denn dieser Erzähler verliebt sich ständig, doch er erzählt „niemandem etwas davon“, am wenigsten dem Mädchen selbst: „Mit keinem dieser Mädchen habe ich mehr als drei Sätze geredet.“

Man muss das lesen, und wer es getan hat, wird dieses Gefühl spüren, es ist eigenartig belebend und auch wieder nicht; happy to be sad, sagen die Engländer dazu, und wer den folgenden Satz auch schön findet, wird ahnen, wie es sich anfühlt: „Der Tag im Kornfeld, bevor wir uns die Hand verbrannte­n, war in gewisser Weise der perfekte Tag.“

Wolfgang Herrndorf: „Stimmen. Texte, die bleiben sollten“, Rowohlt, 192 S., 18 Euro.

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FOTO: LAIF Wolfgang Herrndorf litt an einem Hirntumor. Er starb 2013.

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