Rheinische Post Langenfeld

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Vater verzog keine Miene, er schaute nicht einmal in Tonis Richtung, hatte nur seine Gefangenen fest im Blick. „Warum ist Vati so komisch?“

„So ist sein Beruf.“Mutter schärfte mir noch einmal ein, dass ich beim Mittagesse­n nicht mit den Männern sprechen durfte.

Sie kochte Linsensupp­e mit Mettwürstc­hen.

Ich hatte keinen Hunger.

Die Gefangenen mochten zwar nicht gefährlich aussehen, aber man konnte nie wissen.

Auch die Freigänger aus der Anstalt sahen oft nett aus und hatten doch nur Böses im Sinn, besonders mit jungen Mädchen. Das erzählte mir Vater fast jeden Tag.

Aber ich wollte nicht zugeben, dass ich Angst davor hatte, was genau dieses „Böse“sein sollte. „Wir müssen aufpassen, dass sie Dirk nichts tun“, sagte ich deshalb.

Mutter lachte wieder. „Wie wäre es, wenn ich für dein Brüderchen und dich Spinat mit Kartoffelp­üree koche? Du kannst ihn dann am kleinen Küchentisc­h füttern und auch da essen. Dann hast du mit den Gefangenen nichts zu tun.“

Da hörte ich unseren Briefträge­r kommen. Er bimmelte schon auf dem Feldweg mit seiner Fahrradkli­ngel.

„Darf ich zur Tür?“Die ging zwar zum Garten hinaus, und da würde ich in die Nähe der Gefangenen kommen, aber ich wartete doch noch immer auf mein Autogramm.

„Geh nur.“

Ich hatte Antwort vom Verlag!

Ein großer gepolstert­er Umschlag, der an „Fräulein Annemarie Albers“adressiert war.

Ein kleines Buch und ein Brief steckten drin.

Im Brief stand, dass sie im Moment leider keine Autogramme von Astrid Lindgren hätten, mir aber als „kleinen Trost“den Almanach „Gebt uns Bücher – gebt uns Flügel“zu Lindgrens 60. Geburtstag schicken würden, und sie wünschten mir viel Freude damit.

Mutter las wie immer über meine Schulter hinweg mit.

Sie sah ganz stolz aus.

Mir waren die Hände flatterig, als ich das Buch durchblätt­erte.

Es waren lauter Geschichte­n aus den verschiede­nen Lindgrenbü­chern drin, aber sie hatten auch ihre Lebensgesc­hichte darin aufgeschri­eben, und es gab Fotos.

Auf dem schönsten hatte sie eine ganz große Armbanduhr am Handgelenk und lachte einen an.

Wenn ich zur Konfirmati­on meine erste Uhr bekam, würde ich mir genau so eine wünschen, eine Herrenuhr!

Vater hatte mir ins Gesicht geschlagen.

Weil er wieder so wild geträumt hatte.

Er war darüber so erschrocke­n, dass ich dachte, er würde anfangen zu weinen.

Er rannte ins Badezimmer, holte einen nassen Waschlappe­n und drückte ihn auf mein Auge und meine Backe.

„Hast du vom Krieg geträumt?“„Ja.“

„Warum?“

„Darum.“

„Erzähl mir was vom Krieg.“„Nein.“

„Bitte, bitte!“

„Sei still!“

Ich bekam endlich, endlich doch noch meinen Willen: Ich durfte meine Haare abschneide­n lassen.

Mir war nicht klar, wer Vater die Erlaubnis abgerungen hatte. Mutter bestimmt nicht.

Onkel Maaßen vielleicht, obwohl ich sie nie miteinande­r sprechen sah.

Oder vielleicht auch ich, weil ich ihm, wenn er da war, Abend für Abend beim Einschlafe­n alles Mögliche über kürzere Haare erzählte und dass es auf der ganzen Welt keine einzige kluge Frau gäbe, die ein Krönchen auf dem Kopf trug.

Barbaras burschikos­en Kurzhaarsc­hnitt fand er in Ordnung.

„Aber komm mir bloß nicht mit langen Haaren nach Hause!“

Das fand ich komisch, denn ich hatte die längsten Haare, die es gab, sie reichten mir mittlerwei­le bis zum Oberschenk­el.

Inzwischen war mir alles egal, ich wollte einfach nur nicht mehr aussehen wie ein sehr merkwürdig­es kleines Kind.

Barbara war mit der neuen Tante Maaßen zu einem Friseur in die Stadt gefahren, zum „ersten Haus am Platz“.

Dazu fehlte uns das Geld und Mutter die Zeit, „mit dem Bus den halben Tag zu verjuckeln“.

Also nahm sie mich mit zu ihrem Friseur Jansen an der Bushaltest­elle bei der Anstalt, wo sie sich alle paar Monate eine Wasserwell­e legen ließ.

„Machen Sie ihr was Flottes, Sie wissen schon, ein bisschen was Freches . . .“

Aber sie wussten nicht.

Der „Chef persönlich“schnitt mir ratzfatz die Haare bis zum Kinn ab und verschwand wieder. Mein Kopf war auf einmal ganz leicht, ein komisches Gefühl.

Ich schaute zu Mutter hin, aber die hatte ihre Nase in eine Zeitschrif­t gesteckt, während eine Friseuse ihr Wickler in die Haare drehte.

Es stank nach Festiger und auch irgendwie verbrannt.

Dann kam der Chef persönlich wieder zu mir und schnippelt­e weiter an meinen Haaren herum.

Ich machte die Augen zu, weil ich mich nicht im Spiegel sehen wollte.

Er drehte auch mir Wickler rein, die piksten, und stülpte mir eine Trockenhau­be über. Die war laut und heiß, ich dachte, meine Ohren würden gekocht.

Mir hatte man keine Zeitschrif­t gebracht, also saß ich nur da und guckte auf meine Hände.

Schließlic­h befreite mich eine der Friseusen von dem stinkigen Monstrum, zog die Lockenwick­ler heraus, das ziepte, und fing an zu toupieren, das ziepte noch mehr.

Dann nebelte sie mich mit Haarspray ein, das in den Augen brannte und eklig auf den Lippen kleben blieb.

„Wunderbar!“Der Chef persönlich war wieder da und bewegte einen Handspiege­l um meinen Hinterkopf herum. „Eine richtige kleine Dame.“

Mutter hatte einen schmalen Mund. Sie bezahlte.

Und dann liefen wir, als wir aus dem Laden herauskame­n, direkt in Herrn Struwe hinein.

Der blieb stehen und machte Riesenauge­n.

„Annemarie! Was hast du denn gemacht? Du siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn!“

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