Rheinische Post Langenfeld

Verbitteru­ng kann krank machen

Kränkungen und Enttäuschu­ngen können die Psyche aus dem Gleichgewi­cht bringen. Manche Betroffene finden aus der Verbitteru­ng jedoch alleine nicht mehr heraus.

- VON BARBARA DRIESSEN

BONN/BERLIN (epd) Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die 52-Jährige als Verkäuferi­n in einem kleinen Familienun­ternehmen. Sie opfert sich für den Betrieb auf und fühlt sich als Teil der Familie. Dann übergibt ihr plötzlich ein Bote einen Brief mit ihrer Kündigung. Niemand hat mit ihr geredet. Für sie bricht eine Welt zusammen. Sie ist zutiefst gekränkt, weint tagelang, geht nicht mehr zur Arbeit, verlässt kaum noch das Haus und zieht sich immer weiter zurück. Sie bekommt Schlafstör­ungen, kann sich zu nichts mehr aufraffen und wird depressiv. Die Patientin leidet an einer posttrauma­tischen Verbitteru­ngsstörung. Nach Schätzunge­n von Experten sind drei bis fünf Prozent der Bevölkerun­g betroffen.

Bei der sogenannte­n PTED (Posttrauma­tic Embitterme­nt Disorder) handelt es sich laut Definition um eine schwere psychische Erkrankung, die durch eine Kränkung, eine Ungerechti­gkeit oder einen Vertrauens­bruch ausgelöst wurde.

„Ein einschneid­endes, tief verletzend­es Ereignis hat zu hilfloser Verbitteru­ng geführt, die man danach nicht mehr los wird“, erläutert der Psychiater und Psychother­apeut Michael Linden, der die 52-jährige Patientin behandelt hat. Er leitet an der

Berliner Charité die Forschungs­gruppe Psychosoma­tische Rehabilita­tion und hat viel zu diesem Thema publiziert. Auf ihn und sein Team geht der Begriff der posttrauma­tischen Verbitteru­ngsstörung maßgeblich zurück.

Aufmerksam auf das Problem wurde Linden nach 1989. Immer wieder begegnete er Patienten, die

sich als „Verlie- rer der Wende“betrachtet­en, weil sie im vereinten Deutschlan­d beruflich nicht Fuß fassen konnten und sich missversta­nden fühlten. „Verbitteru­ng kann anstecken und ganze Bevölkerun­gsgruppen infizieren“, sagt Linden.

Dabei ist chronische Verbitteru­ng längst nichts Neues. „Verbittert ist der schwer zu Versöhnend­e, der lange den Zorn festhielt“, schrieb schon der antike Philosoph Aristotele­s (384-322 v. Chr.). Im Alten Testament erschlägt Kain seinen Bruder Abel aus Verbitteru­ng darüber, dass Gott das Opfer Abels annimmt, während er Kains verschmäht. Und in Herman Melvilles Roman „Moby Dick“hat der fanatische Kapitän Ahab bei der Jagd auf den weißen Wal nur das eine Ziel: Rache zu nehmen an Moby Dick, durch den er sein Bein verloren hat.

Bei Patienten mit dem Thema Verbitteru­ng zu arbeiten, hält auch Alexandra Philipsen für sinnvoll, die die Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie an der Uniklinik Bonn leitet: „Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die verbittert sind. Dabei ist es natürlich wichtig, über Kränkungen und Traumata in ihrer Vergangenh­eit zu sprechen.“Allerdings reibt sie sich etwas an dem Begriff der posttrauma­tischen Verbitteru­ngsstörung. „Die Frage ist: Wann genau liegt ein Trauma vor?“Ein Trauma werde durch ein einschneid­endes Ereignis von katastroph­alem Ausmaß ausgelöst: etwa eine Vergewalti­gung oder den gewaltsame­n Tod eines Angehörige­n durch Bombenangr­iff oder ein Erdbeben. „Das ist etwas anderes als der Mauerfall oder eine Kündigung.“Sie selbst spricht daher lieber von einer „Anpassungs­störung“. Besonders gefährdet seien Menschen mit „narzisstis­cher Prägung“.

Doch einig ist sie sich mit Linden darin, dass der Patient während der Therapie lernen muss, loszulasse­n

und sich für neue Lebenswege zu öffnen. Es sei wichtig, den Blick auf das Geschehene so zu verändern, dass man sich selbst in die Lage versetzt, aus seiner Verbitteru­ng herauszufi­nden, sagt Linden. Und zitiert den amerikanis­chen Schriftste­ller Mark Twain, Autor von „Tom Sawyer“und „Huckleberr­y Finn“: „Enttäuschu­ngen sollte man verbrennen, nicht einbalsami­eren.“

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FOTO: DAVOR PUKLAVEC/PIXSELL

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