Rheinische Post Langenfeld

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Mir schossen die Tränen in die Augen, aber das merkte er nicht, weil er anfing, sich mit Mutter zu unterhalte­n. Das war mir ganz egal.

Ich schloss mein Fahrrad auf und trampelte los.

Zu Hause fegte Vater gerade die Tenne, Dirk saß in seinem Sportwagen und guckte zu.

Ich ließ mein Fahrrad einfach fallen, stürzte ins Badezimmer und hielt meinen Kopf unter den Wasserkran.

Die Haare waren klebrig vom Spray, also spülte ich weiter und weiter. Dann rubbelte ich sie mit dem Handtuch.

Und schaute in den Spiegel.

Das war ich?

Die kurzen Haare fingen an sich zu kringeln.

Burschikos? Ganz bestimmt nicht! Ich wollte kein Bursche sein und auch keine richtige kleine Dame.

Ich wollte eine Studentin sein, die ganz viel wusste, eine Frau mit einer Herrenarmb­anduhr.

Onkel Gembler war sonst immer durch die hintere Stalltür gekommen, wenn er morgens seine Schweine fütterte oder die Koben ausmistete, und meist wieder verschwund­en, ohne dass wir es im Vorderhaus so richtig mitbekamen.

Jetzt auf einmal kam er durch die Seitentür neben der Spülküche, und das vormittags und noch einmal am späten Nachmittag, damit wir mit den Schweinen keine Arbeit mehr hätten.

Mutter ging dann immer raus in die Futterkamm­er und plauderte mit ihm.

„Das ist höflich“, erklärte sie mir. Nach einer Weile lud sie ihn, wenn Vater im Dienst war, zu einer Tasse Bohnenkaff­ee in unsere Küche ein.

Da saß er dann und stank unsere Wohnung voll.

Ich machte mich immer schnell aus dem Staub.

Vater hatte nach dem Krieg, als er noch nicht wieder in den Staatsdien­st durfte, sein Geld sauer verdienen müssen, mit schwerer Arbeit auf dem Hof der Gemblers. Daher kannten wir die Familie.

Onkel Gembler sprach fast so langsam wie Tante Lehmkuhl, nur nicht so quäkig.

Wenn er endlich seinen Kaffee ausgetrunk­en hatte, brachte Mutter ihn noch an die Tür und plauderte weiter.

Heute hatten sie sich beim Kaffee über „Holiday on Ice“unterhalte­n – das hatte ich in meinem Korbsessel belauscht –, eine Eisrevue, die einmal im Jahr in Krefeld gastierte und zu der Onkel und Tante Gembler immer fuhren. Und diesmal wollten sie auch eine Karte für Mutter besorgen und sie mitnehmen.

Mir fiel plötzlich ein, dass Barbara erzählt hatte, Kilius / Bäumler würden jetzt bei „Holiday on Ice“auftreten – ich musste unbedingt mit nach Krefeld!

Hoffentlic­h war Onkel Gembler noch nicht weg.

Ich rannte zur Tür.

Und da standen Mutter und Onkel Gembler und küssten sich. Mit offenem Mund.

Es sah doof aus, Mutter war viel größer als er.

Und es war falsch.

Sie merkten wohl, dass ich da war, denn plötzlich hörten sie auf und schauten zu mir hin.

Ich stolperte weg. Hörte aber noch, wie Onkel Gembler krächzte: „Wenn die was gesehen hat!“

„Die hat nichts gesehen.“Mutter lachte. „Und außerdem versteht die noch nichts.“

Ich stieg zu meinem Hauptquart­ier hoch und weinte.

Aber dann wurde ich auf einmal fuchsteufe­lswild und trat gegen die Außenluke, dass es nur so schepperte.

Danach weinte ich wieder.

Ich blieb, bis es dunkel war. Mutter tat so, als wäre nichts passiert.

Sie hatte gerade Dirk gebadet und legte ihn ins Bettchen.

„Warte eben, ich backe dir gleich ein Pfannküchs­ken mit Zucker.“

Später brachte sie mich ins Bett, mit Beten und feste Drücken und allem.

Dann verschwand sie im Wohnzimmer und machte die Tür fast zu, aber ich hörte trotzdem, dass sie den Telefonhör­er abnahm und wählte. Sie würde Liesel anrufen.

Aber ich hatte keine Lust zu lauschen, mir tat der Bauch weh.

Ich wollte es Vater erzählen.

Weil es nicht richtig war.

Aber das durfte ich nicht.

Das letzte Mal, als ich gepetzt hatte, war Peter weggekomme­n.

Und Omma war gestorben.

Aber dass sie „die“über mich sagte! „Die versteht noch nichts!“

Ich verstand alles.

Wie konnte sie so mit dem reden? Sie war doch meine Mutter!

Mütter sagten so etwas nicht über ihr Kind.

Und Mütter taten so etwas nicht. Sie telefonier­te und telefonier­te. Mir wurden die Augen schwer, vielleicht weil ich so lange geweint hatte.

Ich schlief ein.

Ein bisschen merkte ich noch, dass Vater ins Bett kam, aber nicht so richtig.

Ich wachte auf, als alle noch schliefen – Mutter, Dirk und auch Vater neben mir –, und hatte eine kabbelige Wut im Bauch.

„Vati . . .“Ich war ganz leise, aber er bewegte sich, zog die Decke herunter und wischte sich über den Mund.

„Was?“Er setzte sich halb auf und stützte sich auf den Ellbogen. „Annemie, was ist los? Hast du was?“

Ich lag auf dem Rücken und war wie aus Wasser.

„Mutti und Onkel Gembler haben sich geküsst.“Ich zog mir das Oberbett bis zur Nase hoch.

Vater starrte mich an, und da sagte ich es noch einmal: „Mutti und Onkel Gembler haben sich geküsst. In der Spülküche. Lange.“

Ich konnte ihn nicht richtig sehen, es war noch zu dunkel, aber ich wusste, dass seine Nase weiß war. Vielleicht sein ganzes Gesicht.

Er setzte sich auf den Bettrand und fing an, sich anzuziehen.

„Schlaf noch ein bisschen, Kind, es ist noch ganz früh.“

„Was tust du, Vati?“

„Nichts, ich zieh mich bloß an. Schlaf weiter.“

Aber das konnte ich nicht.

Würde Mutter jetzt auch wegkommen? Und was wurde aus Dirk und mir?

Zu Vater wollte ich nicht.

Ich wollte zu gar keinem.

Wer würde gewinnen?

Ich kniff die Augen zu und wollte „Papperlapa­pp“sagen, aber es klappte nicht.

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