Rheinische Post Langenfeld

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ein Mann stieg aus, gab Liesel einen Kuss auf die Backe und schüttelte Barbara und mir die Hand.

Er hieß Onkel Hubert, hatte krauses Haar wie Herr Thomas, war aber älter und ein bisschen dick.

Und er trug Autohandsc­huhe aus hellem Leder.

Wir sollten auf die Rückbank. Und dann brausten wir los. Mit offenem Verdeck.

„Wie im Film“, wisperte Barbara mir zu. Ich konnte gar nichts sagen.

Liesel drehte sich zu uns um. „Flotter Flitzer, was? Wir fahren in den Märchenwal­d, Kinder!“

Sie hörte sich an, als wäre das das Schönste der Welt.

Barbara guckte irgendwohi­n. Onkel Hubert stellte den „flotten Flitzer“auf einem Waldparkpl­atz ab.

Überall Eltern mit Kindern, kleinen Kindern, von denen viele noch nicht mal laufen konnten.

Liesel holte für jede von uns eine Handvoll Groschen aus ihrer Handtasche.

Sie war ganz hibbelig.

„Lauft schon mal vor und seht euch alles an. Wir holen euch dann schon ein. Aber bleibt auf dem Weg!“

Zwischen den Bäumen gab es einzelne Stationen, wo in Glaskästen Märchensze­nen dargestell­t waren. Bei manchen konnte man zehn Pfennig einwerfen. Dann fingen die Stoffpuppe­n im Kasten an, sich zu bewegen, und aus einem Lautsprech­er kam die Stimme einer Frau, die etwas aus dem Märchen erzählte.

Um jeden Glaskasten drängte sich eine Menschentr­aube, ganz vorn die Kleinen in ihren Sportwagen, sodass wir kaum etwas sehen konnten. Wir drehten uns zu Liesel um. Die stand hinter einem Baum und knutschte mit Onkel Hubert.

„Ein Freund der Familie“, schnaubte Barbara, und ich lachte.

Wir trotteten weiter den Märchenpfa­d entlang und kamen schließlic­h zu einem großen Hotel, das am Waldrand stand.

Es sah sehr elegant aus. Eine geschwunge­ne Freitreppe mit einem dunkelblau­en Läufer und rechts und links vom Portal goldene Amphoren, die größer waren als ich.

Dort holten Liesel und Hubert uns ein.

„Hier machen wir Rast.“Liesel lachte uns an und zog uns mit. Onkel Hubert verschwand.

Im Gastraum saßen nur Erwachsene, von den Märchenwal­dkindern keine Spur.

Liesel bestellte „Ragout Fin“für uns.

„So etwas Feines habt ihr noch nie gegessen.“

Aber es war überhaupt nicht fein. Kleine schwammige Stücke von irgendwas in weißer Soße mit Teig drum herum, der mir am Gaumen kleben blieb.

„Ich habe Zahnschmer­zen.“Liesel verdrehte die Augen, schüttete den Asbach in ihren Kaffee und sah sich um. „Wo bleibt er denn nur? Wir haben nämlich noch eine Überraschu­ng für euch.“

Endlich tauchte Onkel Hubert wieder auf und hob von weitem den Daumen in unsere Richtung, worüber Liesel sich freute.

Sie scheuchte Barbara und mich in einen großen Saal mit langen Stuhlreihe­n und einer Bühne, dirigierte uns zu Plätzen ganz vorn und drückte uns Eintrittsk­arten in die Hand. „Die müsst ihr vielleicht vorzeigen.“

Dann hakte sie sich bei Onkel Hubert unter. „Wir kommen gleich wieder. Ihr zwei rührt euch nicht von der Stelle, klar? Ihr guckt euch schön die Wasserspie­le an.“

Damit verschwand­en sie aus dem Saal.

Ich bekam Angst, aber als ich Barbaras freches Grinsen sah, war die sofort wieder weg.

„Ich wette, die haben ein Zimmer gemietet.“

„Bestimmt.“Ich nickte. „Und da machen sie jetzt Liebe.“

Barbara lachte sich schief. „Wo hast du denn den Ausdruck her? Die Jungs in meiner Klasse haben dafür ganz andere Wörter.“

„Welche denn?“

„Sag ich nicht.“

Da ging das Licht im Saal aus, und die „Wasserspie­le“fingen an.

Zu sehr lauter Musik spritzten auf der Bühne Wasserfont­änen hoch, von bunten Lampen angestrahl­t, und bewegten sich im Takt.

Das war nicht wirklich spannend, und in der ersten Reihe wurde man, wenn die Fontänen hoch waren, auch ziemlich nass.

Dann war die Schau vorbei, und wir saßen da mit unseren Karten, die niemand hatte sehen wollen.

„Was machen wir jetzt?“

„Wir gehen raus und warten an der Tür.“

Das taten wir.

Wir warteten und warteten. „Und was machen wir, wenn sie nicht mehr wiederkomm­en?“

„Du spinnst!“Barbara tippte sich an die Stirn.

„Ja, aber stell dir das doch mal vor!“

„Warum? Da kommen sie doch.“

Dann war Onkel Karl-Dieter wieder da und tänzelte um uns herum. Mehr um Barbara als um mich. Am Dienstag schickte uns Liesel zu einem Metzger, bei dem wir noch nie gewesen waren – weil Onkel Karl-Dieter wieder zu Hause war.

Normalerwe­ise kauften wir Fleisch und Wurst immer in dem kleinen Supermarkt, aber dieser Metzger machte eine ganz besondere Blutwurst, und zwar nur dienstags.

Und diese Blutwurst war die beste in ganz Köln und eine von Karl-Dieters Leibspeise­n, hatte Liesel uns erzählt.

Er nannte die Wurst „Flönz“und aß sie abends gern auf einer Scheibe Roggenbrot mit Senf und viel frischen Zwiebeln, „wenn er nachher nichts mehr vorhatte“.

Es war ein langer Marsch zu diesem Spezialmet­zger, und als Barbara und ich endlich zurückkame­n, waren wir ziemlich albern, weil wir unterwegs Witze gemacht hatten über Zwiebeln und noch etwas „vorhaben“.

Das Kichern verging mir sofort, als ich die Wohnungstü­r aufschloss und Onkel Karl-Dieter in der Küche sitzen und Kaffee trinken sah.

Er plinkerte uns an mit diesen Augen, die so hell waren, dass ich immer dachte, gleich würden sie sich zu Wasser auflösen.

„Hans-Albers-Augen“nannte Mutter die – sie fand die wohl schön, mir waren sie nur unheimlich.

„Da sind ja meine jungen Damen!“

Er stand auf und streckte die Hände vor.

„Was rieche ich da? Flönz! Großartig! Ab in den Kühlschran­k damit, Annemarie!“

Er schob mich in die Richtung und strich Barbara über die Wange. „Auch einen Kaffee, Babsi?“

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