Rheinische Post Langenfeld

Biedermann und die Brandstift­erin

Der Prozess gegen Beate Zschäpe und Unterstütz­er des NSU wurde vom Gericht nicht protokolli­ert. Nun liegt trotzdem eine Mitschrift vor.

- VON KLAS LIBUDA

DÜSSELDORF Man meint ja, schon alles über den sogenannte­n NSU zu wissen, über Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und ihre Verbrechen: drei Sprengstof­fattentate, 15 Raubüberfä­lle, zehn Morde. Über ein Jahrzehnt hinweg zog das Trio durch das Land. Am 4. November 2011, fast auf den Tag genau vor sieben Jahren, töteten sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfa­ll schließlic­h selbst. Allein Beate Zschäpe stellte sich, zuvor hatte sie noch ein Bekennervi­deo in die Post gegeben. Damit war der Nationalso­zialistisc­he Untergrund (NSU) in der Welt. Wobei das nicht ganz richtig ist. In der Welt war der NSU vorher schon. Nur ermittelt hatte ihn niemand.

6. Mai 2013 – das ist der Tag, an dem im Schwurgeri­chtssaal A 101 des Oberlandes­gerichts München der größte Prozess der deutschen Nachwendez­eit begann, bis zum 11. Juli 2018 wurde verhandelt. Sechs Jahre, fünf Angeklagte – neben Zschäpe waren das die Unterstütz­ter Ralf Wohlleben, André E., Holger G. und Carsten S. –, 14 Verteidige­r, 91 Nebenkläge­r, mehr als 600 Zeugen und Sachverstä­ndige. Ein historisch­es Verfahren. Nie zuvor hatte sich ein Gericht mit rechtem Terror solchen Ausmaßes beschäftig­t. Trotzdem liegen über den Verfahrens­verlauf kaum amtliche Dokumente vor. Denn in Deutschlan­d werden Gerichtspr­ozesse für gewöhnlich nicht aufgezeich­net, und in München gab es von der Regel keine Ausnahme. Trotz der zeitgeschi­chtlichen Bedeutung und des öffentlich­en Interesses an den Umständen der Mordserie lehnte das Gericht entspreche­nde Anträge ab. Dennoch liegen die Protokolle nun vor.

Annette Ramelsberg­er, Tanjev Schultz, Rainer Stadler und Wiebke Ramm haben sie verfasst, keinen Prozesstag haben sie verpasst, den Wortlaut mitgeschri­eben. Alles sollte festgehalt­en, nichts vergessen werden. Ein Zeugnissch­utzprogram­m.

Jährlich erschien im Magazin der „Süddeutsch­en Zeitung“eine Auswahl dieser Mitschrift­en. Nun breiten die Autoren ihr Material erstmals umfangreic­h aus. Fünf Bände sind es geworden, 2000 Seiten. Wer diesen Stapel Bücher vor sich hat, stellt sich zwei Fragen: Kann man das lesen? Muss man das lesen? – Ja.

Obwohl der Vorsitzend­e Richter Manfred Götzl ab dem ersten Tag als Formalist auftrat, darauf bedacht, ein revisionss­icheres Urteil zu sprechen, war dieser Prozess schließlic­h alles andere als gewöhnlich. Nachbarn kamen zu Wort, Neonazi-Freunde der Angeklagte­n, Mütter, Väter und Verwandte. Vor allem die Anwälte der Nebenkläge­r – Geschädigt­e und Angehörige der Opfer – hatten ein Interesse daran, das Umfeld des NSU auszuleuch­ten. Es ging ihnen um die Frage, warum zehn Menschen ermordet wurden. Eine Antwort bekamen sie nicht. Zschäpe schwieg lange und ließ sich schließlic­h schriftlic­h ein. Allein Carsten S. sagte von Beginn an umfassend aus. Er hatte die eská, die Mordwaffe, besorgt.

Prozesstag fünf – Auszug:

Richter Götzl: Für was brauchten die drei die Waffe?

S.: Ich habe es nicht gewusst. Götzl: Haben Sie nachgefrag­t?

S.: Nein.

Götzl: Haben Sie sich Gedanken gemacht?

S.: Ich dachte mir irgendwie, dass da nichts Schlimmes passieren würde, ich hatte ein positives Gefühl, dass die drei in Ordnung seien.

So geht es in einem fort. Die Verfasser der Protokolle haben sich entschiede­n, die Befragunge­n kaum durch Anmerkunge­n zu unterbrech­en. Allerdings sind Aussagen teilweise gerafft, und nicht jede Antragsbeg­ründung ist ausführlic­h abgebildet. Mit einem juristisch­en Dokument sollte man den Text darum nicht verwechsel­n.

Dem ersten Band stellen die Autoren einen Prolog voran, der letzte Band ist eine Materialsa­mmlung, unter anderem mit Kurzporträ­ts maßgeblich­er Prozessbet­eiligter. Ein echter Zugewinn. Wucht aber entfaltet die reine Textmasse: tagaus, tagein, bis hin zum Urteil an Prozesstag 438. Erkenntnis­reich sind deshalb vor allem Band eins bis vier – komplex, aber erstaunlic­h lesbar. Wie beim Puzzle setzt sich mit der Zeit ein Panorama zusammen. Ein Deutschlan­dbild.

Und es sind nicht nur Bände über den Osten des Landes geworden, wo die Angeklagte­n ja herkamen. Auch in Dortmund nennen Menschen ihre Kinder Thor und Odin, wie ein Zeuge unumwunden zugibt. Das seien für ihn germanisch­e Götter, sagt er – aber es sind eben auch Säulenheil­ige der Rechtsextr­emen.

Angehörige berichten hinlänglic­h vom Alltagsras­sismus, dem sie sich ausgesetzt fühlten, weil die Attentate von Sicherheit­sbehörden und Öffentlich­keit reflexhaft mit der Mafia oder Drogengesc­häften in Verbindung gebracht wurden.

Urlaubsfre­unde erzählen von Stahlhelm und Totenkopf, die Böhnhardt tätowiert hatte und als Jugendsünd­e abtat. Sie beließen es dabei. Holger G., der dem Trio seinen Ausweis überlassen und eine Karte der AOK beschafft hatte, half Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe noch, nachdem er sich aus der Szene losgesagt hatte. Er fuhr sogar mit ihnen in den Urlaub. Er ist nicht der einzige Biedermann, der sich mit den Brandstift­ern einließ.

Beate Zschäpe ist durch die vielen Zeugenauss­agen allgegenwä­rtig in den Protokolle­n, obwohl sie über Jahre die Aussage verweigert­e – und als sie sprach, die Verantwort­ung von sich wies. Das Gericht verurteilt­e sie dennoch zu lebenslang­er Haft und stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

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FOTO: DPA Beate Zschäpe (l.) und der Vorsitzend­e Richter Manfred Götzl (3. v. r.).

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