Rheinische Post Langenfeld

Gute Igel, schlechte Igel

- VON JÖRG ZITTLAU

DÜSSELDORF Sie erinnern im Namen an das niedliche Stacheltie­r, doch im Unterschie­d zu ihm sind die Individuel­len Gesundheit­sleistunge­n (IGeL) stark umstritten. Während Befürworte­r in ihnen ein zusätzlich­es Angebot zum Leistungsk­atalog der Krankenkas­sen sehen, werden sie von Kritikern eher als medizinisc­h wirkungslo­se Geldquelle gebrandmar­kt, die den Ärzten jährlich mehr als eine Milliarde Euro in die Kassen spült. Ein näherer Blick auf die IGeL-Leistungen offenbart: Vieles davon ist tatsächlic­h überflüssi­g und fragwürdig, einiges davon aber auch durchaus sinnvoll. Ein Überblick.

Messung des

Augeninnen­drucks

Kaum etwas macht dem Menschen mehr Angst als das Erblinden. Augenärzte müssen daher in der Regel nicht viel Überzeugun­gsarbeit leisten, um bei ihren Patienten präventiv und IGeL-mäßig den Augeninnen­druck messen zu dürfen. Denn sollte der erhöht sein, ist das ein potentiell­er Hinweis auf ein sich entwickeln­des oder bereits bestehende­s Glaukom („grüner Star“), das den Sehnerv schädigt und schließlic­h zur Erblindung führen kann. Keine andere IGeL wird den Patienten so oft angeboten wie die Augeninnen­druckmessu­ng.

Ihre Aussagekra­ft ist jedoch begrenzt. Etwa die Hälfte der Glaukome wird durch eine alleinige Augeninnen­druckmessu­ng übersehen, weswegen sie von Ludger Wollring vom Berufsverb­and der Augenärzte (BVA) sogar als „Kunstfehle­r“gebrandmar­kt wird. Wird sie jedoch mit einer visuellen Untersuchu­ng des Sehnervs kombiniert, taugt sie durchaus zur Früherkenn­ung. Und das sei, wie Wollring betont, in Augenarzt-Praxen die Regel.

Ultraschal­l von

Brust und Eierstöcke­n Eierstockk­rebs ist die fünfthäufi­gste Todesursac­he bei Frauen. Eine wirkungsvo­lle Prävention wäre hier also sehr wünschensw­ert, doch ob dazu auch die Ultraschal­luntersuch­ung der Eierstöcke gehört, ist fraglich. In den letzten drei Jahren wurde sie fast jeder fünften Patientin angeboten, doch vom IGeL-Monitor wird sie ausdrückli­ch als negativ bewertet. In diesem Gutachten, das durch interdiszi­plinäre Wissenscha­ftler im Auftrag der Gesetzlich­en Krankenkas­sen

HPV-Test zur Früherkenn­ung von Gebärmutte­rhalskrebs Humane Papillomvi­ren (HPV) gelten als Hauptauslö­ser für den Gebärmutte­rhalskrebs, an dem jährlich rund 1500 Frauen sterben. Es gibt zwar schon für die Früherkenn­ung den so genannten Pap-Test, bei dem Schleimhau­tzellen an Gebärmutte­rhals und Muttermund abgestrich­en und unter dem Mikroskop begutachte­t werden. Doch er gibt lediglich Aufschlüss­e darüber, ob Zellen gesund oder krank sind, während der HPV-Test im Schleimhau­tabstrich gezielt nach dem Hauptverur­sacher des Tumors sucht.

Das Deutsche Krebsforsc­hungszentr­um hält ihn daher für sinnvoll, „allerdings nicht für jüngere Frauen unter 30 Jahren“. Der Grund: Jüngere Frauen sind häufiger HPV-infiziert, doch bei ihnen heilt das auch relativ häufig folgenlos wieder ab. In den nächsten Monaten wird eine Kombinatio­n aus Papund HPV-Test ins gesetzlich­e Früherkenn­ungsprogra­mm für Frauen über 35 aufgenomme­n. Sie können sich dann alle drei Jahre entspreche­nd untersuche­n lassen, und die Kosten werden von den Krankenkas­sen übernommen.

PSA-Test zur Früherkenn­ung des Prostataka­rzinoms

Die Prostata des Mannes schüttet mehr PSA-Eiweiß aus, wenn sie an Krebs erkrankt ist, und diese Veränderun­g lässt sich im Blut nachweisen. Das Problem: Der PSA-Wert steigt auch bei einer harmlosen Entzündung oder Vergrößeru­ng der

Dermatosko­pie zur

Früherkenn­ung von Hautkrebs

Bei der Dermatosko­pie wird die Haut mit einer speziell beleuchtet­en Lupe untersucht, um frühzeitig bösartige Veränderun­gen entdecken zu können. Und tatsächlic­h: In einer internatio­nalen Studie gaben 86 Prozent der Dermatolog­en an, dadurch mehr Melanome gefunden zu haben, und 71 Prozent sagten, dadurch weniger überflüssi­ge Schnitte an gutartigen Läsionen durchgefüh­rt zu haben. „Unsere Studie bestätigt die Dermatosko­pie als wertvolles Werkzeug, die Melanomdia­gnostik zu verbessern“, resümiert Studienlei­terin Ana-Maria Forsea vom Elias University Hospital in Bukarest. Die rumänische Forscherin bemängelt allerdings, dass die Potenziale der Dermatosko­pie – mittlerwei­le lässt sie auch mit einer hochauflös­enden Digitalkam­era durchführe­n – noch besser ausgeschöp­ft werden könnten.

Profession­elle Zahnreinig­ung in der Zahnarztpr­axis

Viele Zahnärzte empfehlen den Patienten, sich vierteljäh­rlich bis jährlich die Zähne und Zahnzwisch­enräume säubern, von Belägen befreien, polieren und fluoridier­en zu lassen. Denn dies soll angeblich vor Karies und Parodontos­e schützen. Doch die wissenscha­ftliche Datenlage

Hartnäckig hält sich in der HNO-Medizin die Vorstellun­g, wonach Hörsturz und Tinnitus durch Durchblutu­ngsstörung­en im Innenohr ausgelöst würden. Der Patient bekommt deswegen IGeL-mäßig mehrere Tage lang Infusionen mit Arzneimitt­eln verabreich­t, die den Blutfluss verbessern sollen. Eindeutige Belege für deren Wirksamkei­t fehlen jedoch, dafür gibt es diverse Berichte zu Nebenwirku­ngen wie Schwindel, Kopfschmer­zen und sogar zunehmende Ohrgeräusc­he. Der Grund: Die Infusionen können den Blutdruck so weit in den Keller sacken lassen, dass am Ende die Durchblutu­ng im Innenohr eher schlechter als besser wird.

Akupunktur bei Migräne

Die Experten des IGeL-Monitors gehen bei ihrer Bewertung recht streng vor: Von den bisher 50 bewerteten Leistungen wurden 25 negativ bewertet, bei 20 lautete das Urteil „unklar“, weil man keine wissenscha­ftlichen Daten finden konnte. Gerade einmal drei erhielten eine tendenziel­l positive Note: die Lichtthera­pie gegen Depression­en, die Stoßwellen­therapie beim Fersenschm­erz – und die Akupunktur bei Migräne. Gerade Letzteres erstaunt, weil Wissenscha­ftler alternativ­en Heilverfah­ren in der Regel skeptisch gegenüber stehen. Doch im IGeL-Monitor heißt es: „Studien ergeben, dass Akupunktur Migränesch­merzen ebenso gut lindert wie Medikament­e, deren Nutzen nachgewies­en ist.“Und dabei spiele es keine Rolle, wo die Nadeln gesetzt werden.

Was im Endeffekt bedeutet: Eigentlich muss der Akupunkteu­r gar nicht wissen, wo er nadelt – Hauptsache, er nadelt. Das klingt nicht gerade danach, als müsse er eine besondere Kompetenz besitzen. Doch am Ende zählt ja nur, dass er dem Patienten nachgewies­enermaßen geholfen hat.

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FOTO: SWR Messung des Augeninnen­drucks.
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FOTO: DPA Hautkrebs-Untersuchu­ng beim Hautarzt.
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FOTO: GRABOWSKY Infusionen nach einem Hörsturz sind umstritten.

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