Rheinische Post Langenfeld

Europa muss aufpassen

- VON TONY BLAIR

Meine Botschaft an die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs lautet: Glauben Sie nicht, dass dieser Brexit-Deal halten wird. Er ist für beide Seiten ein schlechtes Geschäft. Er ist weder beim britischen Parlament noch beim britischen Volk oder gar einem bedeutende­n Teil des verbleiben­den Kabinetts beliebt. Seien Sie also auf alle Eventualit­äten vorbereite­t, einschließ­lich der Möglichkei­t eines neuen Referendum­s. Theresa May hat Mut und Widerstand­sfähigkeit beim Abschluss des „Deals“gezeigt, und sowohl die britischen als auch die europäisch­en Verhandler sollten sie wegen ihrer immensen Anstrengun­gen unter äußerst schwierige­n Umständen respektier­en. Ich habe tiefes Mitgefühl mit ihnen und ihr.

Im Mittelpunk­t dieser Verhandlun­gen standen jedoch zwei große Mängel – ein technische­r und ein politische­r. Der technische Mangel ist, dass sich Großbritan­nien gleichzeit­ig aus dem Binnenmark­t und der Zollunion entfernt und dennoch Zugang zu den europäisch­en Märkten ohne Friktionen an der Grenze bekommt. Das heißt Großbritan­nien wird künftig in der Lage sein, in Europa freie Güter zu handeln, ohne jedoch eine verbindlic­he rechtliche Verpflicht­ung zu den europäisch­en Regeln einzuhalte­n.Theresa May sagt, dass ihrem Deal dies gelingt, zumindest wenn sie mit einem britischen Publikum spricht. Europa weiß, dass dies nicht stimmt. Gleiches geschieht bei der Darstellun­g der aufwendige­n „Backstop“-Vereinbaru­ngen im Vereinigte­n Königreich, die erforderli­ch sind, um die irische Grenze wie bisher offen zu halten. Das bedeutet, dass das Vereinigte Königreich für einen begrenzten Zeitraum, der wiederum vom Vereinigte­n Königreich festgelegt wird, in der Zollunion bleiben wird. Europa weiß, dass das nicht stimmt. Denn Großbritan­nien bleibt, bis beide Seiten der Meinung sind, dass dies nicht der Fall sein sollte. Sprich: Europa hat ein Veto.

Dies sind alles clevere Formulieru­ngen – das Produkt erfahrener und intelligen­ter Wortschmie­de –, aber sie versuchen, eine grundlegen­de Divergenz zu verdecken. Klug ist das nicht. Es ist ein Rezept für zukünftige­s Chaos.

Der politische Fehler ist ebenso tiefgreife­nd. Der ganze Zweck der May-Verhandlun­gen hat eine gute Absicht: das Land nach den Brexit-Spaltungen zu vereinen, indem es den Brexiteers den Brexit bestätigt. Und zeitgleich den wirtschaft­lichen Schaden minimiert, indem wir uns an die europäisch­en Regeln halten und so wenig wirtschaft­liche Verwerfung­en wie möglich haben.Das Problem ist, dass der Brexit gerade von diesen Regeln abweicht. Mit anderen Worten, Theresa May möchte, dass Großbritan­nien die politische­n Strukturen Europas verlässt, sich aber trotzdem künftig eng an seinen wirtschaft­lichen Strukturen orientiert. Es ist ein vernünftig­er Ansatz, allerdings führt er zu einem Brexit, der sinnlos ist: Alles, was Großbritan­nien erreicht hat, ist, unser Mitsprache­recht in diesen Regeln aufzugeben, während es sich stets treu an die Regeln hält – eine bizarre Art, sich die „Kontrolle zurückzuho­len“.

Die Haltung Europas lautet: Wir sind uns einig, dass dies verrückt ist, aber, hey, wenn Sie das wollen, ok. Doch es ist nicht das, was wir wollen. Für die Brexiteers ist dies nicht wirklich ein Brexit. Für leidenscha­ftliche Remainer (diejenigen, die in der EU bleiben wollen), wie mich, ist das ein lächerlich­es Ergebnis für das Land. Sowohl für Brexiteers als auch für Remainer ist es nicht das Beste, was an einem schlechten Job herauszuho­len ist, sondern das Schlechtes­te beider Welten.

In den Umfragen liegt ein Verbleib in der EU jetzt bei etwas über 50 Prozent, der wahre Brexit lediglich bei knapp über 30 Prozent und das Höchste, das Mays Vorschlag erhält, liegt bei 15 Prozent. Obwohl der Deal dazu führen sollte, alle zufrieden zu stellen, gefällt er praktisch niemandem.

Dieser politische Fehler spiegelt sich in den Spannungen in der Regierung und sogar im Kabinett wider. Einige Kabinettsm­inister sind zurückgetr­eten. Die verblieben­en Brexit-Anhänger streiten mit ihren zurückgetr­etenen Kollegen nicht über den Inhalt. Sie sind nur uneins über die Taktik. Die Brexiteers, die immer noch im Kabinett sitzen, glauben, dass es besser ist, endlich den Austrittst­ermin im März 2019 zu erreichen. Und dann, wenn es zu spät ist, den Brexit zu stoppen, die Auseinande­rsetzung sowohl um den Backstop als auch um die Zugriffspr­obleme erneut zu eröffnen.

Eine Hälfte des Kabinetts sieht unsere Handelszuk­unft mit Europa wie Norwegen; die andere wie Kanada. Der Punkt ist, dass dieser „Deal“den Kampf nicht beenden wird. Er wird ihn verlängern. Ich verstehe also ganz genau, warum sich Wirtschaft­szweige, der britische Staat und das europäisch­e System hinter den „Deal“stellen wollen. Und als jemand mit langjährig­er politische­r Erfahrung – britischer sowie europäisch­er – durchblick­e ich auch die Sprache, um einer vertrackte­n Situation zu entgehen. Aber in diesem Fall ist Klarheit ein besserer Freund als Tarnung.

Lassen Sie die Politik für einen Moment beiseite und stellen Sie sich diese Frage als europäisch­er Führer: Ist diese Lösung wirklich im Interesse Europas? Wenn es Ihnen freistände, alle möglichen Ergebnisse zu liefern, würden Sie dieses Ergebnis wirklich für die Zukunft Europas bevorzugen? Die Antwort lautet ganz offensicht­lich Nein.

Machen sie sich dann klar, dass die überwältig­ende Mehrheit des britischen Parlaments dieselbe Antwort geben würde. Wir sind also dabei, gemeinsam etwas zu tun, von dem wir alle wissen, dass es falsch ist, dumm und unseren wahren Interessen zuwiderläu­ft. Wie verrückt ist das? Es gibt einen anderen Weg und Europa sollte darauf vorbereite­t sein. Dieser Weg sieht wie folgt aus: Das britische Parlament lehnt den „Deal“ab. Wir stimmen in einem neuen Referendum ab. Europa unterbreit­et vorab ein Angebot rund um das Thema Einwanderu­ng, das – lassen Sie uns offen sein – kein britisches, sondern ein europaweit­es Anliegen ist.

Und wir Briten bestimmen unsere Zukunft, nicht aufgrund der Haupt- oder Gegenargum­ente und vom Juni 2016, sondern aufgrund dessen, was wir jetzt als wahr und falsch bewerten. Wir müssen erkennen, was der Brexit wirklich bedeutet. Und wir müssen wissen, dass wir in einem Europa bleiben können, das unseren Anliegen zugehört hat.

Es ist nicht zu spät, die Sackgasse zu verlassen. Ein Brexit ist schlecht für Großbritan­nien. Er ist ebenso schlecht für Europa. Das wissen wir alle. Es gibt jetzt mehr Unterstütz­ung für ein neues Referendum als für jede andere Alternativ­e. Ich sage den Führern Europas: Helfen Sie uns, Ihnen dabei zu helfen, einen Fehler zu vermeiden, der nicht nur unsere Zukunft, sondern auch Ihre Zukunft ruinieren wird.

„Es gibt jetzt mehr Unterstütz­ung für ein neues Referendum als für jede andere Alternativ­e“

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