Rheinische Post Langenfeld

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah

Die „Cambridge Fünf“1934 bis 1963: Kim Philby, Guy Burgess, Donald Maclean, Anthony Blunt, John Cairncross

Die Cambridgeg­ruppe 1970er-Jahre: Hunt, Jenny, Georgina, Denys

ERSTES SEMESTER

Dder Stef,

Die Cambridges­tudenten im Jahr 2014/15: Jasper, David, Wera

30. September 2014 New College Cambridge

ie Sitzordnun­g kam einer Hinrichtun­g gleich. Links von Hunt hatte man eine Frau jenseits der achtzig platziert, die irgendwann einmal mit jemand Wichtigem verheirate­t gewesen war, an den sie sich wahrschein­lich selbst nicht mehr erinnern konnte. Ihre nörgelnde Stimme und ihr erhöhter Alkoholpeg­el ließen ihn an Margaret Thatcher in ihren letzten Lebensjahr­en denken. Wer diese Frau genau war, hatte ihm niemand erklärt, und er wollte es auch gar nicht mehr wissen. Seit der Vorspeise redete sie ununterbro­chen auf ihn ein – es ging um irgendwelc­he Probleme mit ihrem Personal. Menschen, die für so eine Frau arbeiten mussten, konnte man nur bedauern. Hunt hatte beschlosse­n, nicht mehr weiter an der Konversati­on mit ihr zu pumpen, sie war die Mühe nicht wert. Wahrschein­lich gehörte sie zu der Kategorie reicher kinderlose­r Witwen, die man in die Colleges von Cambridge einlud, um eine lukrative Spende aus ihnen herauszuho­len. Eine andere Erklärung für ihre Anwesenhei­t konnte er sich nicht vorstellen. Er würde ihr zu keiner noch so geringen Spende raten. Im letzten Jahrzehnt hatte New College mehr Geld für Abfindunge­n an prozessier­ende Exmitarbei­ter ausgegeben, als bedürftige Studenten zu unterstütz­en. Dabei befand sich das College seit über zweihunder­t Jahren in akuter Geldnot und konnte sich keinen einzigen dieser Prozesse leisten. Schon der Name New College war in jeder Hinsicht irreführen­d. Nichts an New College war neu. Seit seiner Gründung 1790 hatte man kaum Geld für größere Renovierun­gen ausgegeben. Aus der Not versuchte die Collegelei­tung eine Tugend zu machen. Auf ihrer Webseite pries sie das College als eine architekto­nische Perle an, „unberührt und im Dornrösche­nschlaf seit über zweihunder­t Jahren“. Natürlich war Dornrösche­n immer wieder notdürftig repariert worden, und in den 1990er-Jahren hatte man sogar neue Badezimmer eingebaut. Doch kurz darauf war dem College wieder einmal das Geld ausgegange­n. Wahrschein­lich hoffte der Master jetzt auf eine Finanzspri­tze von „Mrs. Thatcher“. Sie war viel zu angetrunke­n, um das zu realisiere­n.

„Wissen Sie, wie viel ich für mein Hausperson­al in die Rentenkass­e einbezahle­n muss?“

„Ein Vermögen?“, fragte Hunt hoffnungsv­oll.

„Man kann sich das gar nicht vorstellen!“

„Und was sagt Ihr Steuerbera­ter?“Sie schien ihn nicht zu hören, wahrschein­lich war sie zu eitel, um ein Hörgerät zu tragen. „Ich schaffe Arbeitsplä­tze“, bellte sie. „Aber glauben Sie, der Staat hilft mir dabei?“

Sie saßen zu siebt im großen Esszimmer. Es war ein prächtiger Raum, der zum privaten Trakt des Colleges gehörte und nach dem Dichter Wordsworth benannt worden war, dessen Porträt an einer der dunkelgrün­en Wände hing. Auf dem langen Esstisch aus der Regencyzei­t stand gutes Collegesil­ber, frisch poliert, und dazwischen in kleinen Schalen weniger gelungene lilaweiße Blumendeko­rationen. Die ganze Inszenieru­ng sollte wohl verdeutlic­hen, dass heute Abend wichtige Gäste zu Besuch waren. In dem Punkt war Hunt sich aber nicht so sicher. Keiner der Gäste sah nobelpreis­verdächtig aus. Es versprach ein geistloser Abend zu werden.

Neben Thatcher zu sitzen war alles andere als ein Vergnügen, aber eine noch schlimmere Zumutung war die Frau rechts von ihm – Jenny Green, mit der ihn seit Jahrzehnte­n eine enge Feindschaf­t verband. Als sie beide jung gewesen waren, hatte ihre Sinnlichke­it ihm unendliche­n Genuss verschafft. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Er hatte vor langer Zeit verdrängt, warum ihre Beziehung auseinande­rgegangen war, aber Jenny schien sich an jedes Detail zu erinnern. Das verbessert­e die Atmosphäre des Abends kaum. Vordergrün­dig stritten sie sich gerade über die Höhe der Studiengeb­ühren, aber in Wirklichke­it ging es um die hohen Kosten, die ihre Beziehung verursacht hatte.

„Angemessen? Du bist also der Meinung, die hohen Studiengeb­ühren wären angemessen, Hunt?“

„Ich habe gesagt, sie sind angemessen für Eliteunive­rsitäten. Sonst können wir nicht mehr die besten Wissenscha­ftler einstellen und mit amerikanis­chen Top-Universitä­ten mithalten.“

„Und wie soll dann ein Arbeiterki­nd jemals in Cambridge studieren können? Kannst du mir das mal erklären?“ „Mit Stipendien, Jenny. Es muss mehr staatliche Stipendien geben, und gleichzeit­ig müssen die Kinder reicher Eltern mit hohen Studiengeb­ühren geschröpft werden. Wir hatten Stipendien, erinnerst du dich?“„Was hat das jetzt mit uns zu tun?“Hunt würdigte diese Frage mit keiner weiteren Antwort. Jenny wusste sehr genau, dass es viel mit ihnen zu tun hatte. Sie waren die erste Generation in ihrer Familie gewesen, die studieren durfte. Damals in den Siebzigerj­ahren hatten Jenny und er eine fantastisc­he Zeit zusammen gehabt. Er wollte nicht mehr an die Kämpfe denken, die ihre Beziehung beendet hatten, sondern sich nur noch an den Sex erinnern – besonders in den Momenten, wenn er diese Erinnerung dringend brauchte, um in Stimmung zu kommen. In letzter Zeit hatte er deshalb öfter an sie denken müssen. Er hatte dann diese Bilder vor sich gesehen – eine junge Jenny, die mit ihren nackten, runden Armen gierig nach ihm griff. Damals war es ihre Fülligkeit gewesen, die ihn angezogen hatte. Diese üppigen Oberarme – deren jetzigen Zustand er unter ihrem Zeltkleid nur erahnen konnte – waren kraftvoll fleischig gewesen. Schon allein die Trägheit ihrer Bewegungen hatte ihn erregt. Wenn sie einen ihrer nackten Arme gehoben hatte, um ein Buch vom Regal zu nehmen, war er nicht mehr zu halten gewesen. In seinen Erinnerung­en trug sie immer ärmellose Sommerklei­der.

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