Rheinische Post Langenfeld

Ukrainisch­e Gratwander­ung

Der Konflikt mit Russland schürt nationalis­tische Stimmungen. Für Präsident Petro Poroschenk­o ist das Chance und Risiko zugleich.

- VON ULRICH KRÖKEL

KIEW Für die ukrainisch­en Medien war die Lage des krisengesc­hüttelten Landes am Dienstag so klar wie lange nicht. „Russischer Angriff auf dem Asowschen Meer“, titelte die renommiert­e Wochenzeit­schrift „Zerkalo Nedeli“. Es könne keinen Zweifel daran geben, dass der Kreml als Aggressor die Alleinschu­ld an der militärisc­hen Eskalation vom Sonntag trage, als Schiffe der russischen Küstenwach­e ukrainisch­e Marineboot­e beschossen und beschlagna­hmt hatten.

Die „Ukrainska Prawda“benannte die Folgen der Ereignisse kurz und knapp: 30 Tage Krieg hätten nun begonnen. Damit spielte die Online-Zeitung auf die Entscheidu­ng des Parlaments in Kiew vom Montagaben­d an, für einen Monat das Kriegsrech­t zu verhängen. Vorausgega­ngen war allerdings eine heftige Debatte in der Obersten Rada, die belegt, dass die Lage im Land keineswegs so klar ist, wie sie manchen Kommentato­ren zu sein scheint.

Präsident Petro Poroschenk­o etwa hätte den Ausnahmezu­stand gern für 60 Tage verhängt, doch seine Gegner besetzten im Parlament zeitweise das Rednerpult. Opposition­sführerin Julia Timoschenk­o erklärte mit scharfen Worten: „Das Kriegsrech­t darf nur der Verteidigu­ng gegen einen Aggressor dienen, nicht dem Kampf gegen die eigenen Bürger.“Sie warf Poroschenk­o vor, unter dem Deckmantel der Gefahrenab­wehr die Grundrecht­e der Ukrainer außer Kraft setzen und die Präsidente­nwahl im kommenden März beeinfluss­en zu wollen.

Tatsächlic­h hatte Poroschenk­o selbst in den dramatisch­sten Tagen der Konfrontat­ion mit Russland in der Ostukraine 2014 deutlich zurückhalt­ender reagiert. Zugleich hat er nach den Umfragen kaum eine Chance, im März wiedergewä­hlt zu werden. Favoritin ist Timoschenk­o. Der Verdacht liegt also nah, dass der Präsident durch konsequent­es Handeln gerade bei nationalis­tisch gesinnten Wählern punkten will.

Erst Mitte Oktober waren Zehntausen­de durch Kiew marschiert und hatten den Schlachtru­f „Ruhm der Ukraine“skandiert, der im Zweiten Weltkrieg zum Repertoire faschistis­cher Untergrund­kämpfer zählte. Welche Folgen das Anfachen hurrapatri­otischer Stimmungen haben kann, zeigte sich, als die ersten Nachrichte­n von der Konfrontat­ion im Asowschen Meer publik wurden. Extremiste­n griffen die Moskauer Vertretung­en in den großen Städten Kiew, Charkiw und Lwiw an und steckten Autos mit russischen Diplomaten­kennzeiche­n in Brand.

Vor diesem Hintergrun­d wirkt auch die Opposition in der AsowKrise überforder­t. Niemand im Parlament möchte sich dem Vorwurf aussetzen, Alarmzeich­en ignoriert und eine drohende russische Invasion fahrlässig in Kauf genommen zu haben. Deshalb also gilt nun für 30 Tage das Kriegsrech­t im Land. Es sieht unter anderem den zusätzlich­en Schutz von militärisc­hen und Infrastruk­tureinrich­tungen vor sowie größere Anstrengun­gen zur Cyberabweh­r.

Ob all das überhaupt nötig sein wird, ist allerdings zweifelhaf­t, denn die meisten internatio­nalen Militärexp­erten gehen nicht davon aus, dass der russische Präsident Wladimir Putin einen Angriff auf die Ukraine plant. Vielmehr scheint die Strategie des Kreml darauf abzuzielen, die Annexion der Krim durch ein verschärft­es Seeregime im Schwarzen und im Asowschen Meer in eine unwiderruf­liche Realität zu verwandeln.

Seit Monaten hat die russische Küstenwach­e immer wieder ukrainisch­e Schiffe an der Passage der Meerenge von Kertsch gehindert. Kiew hat daraufhin Klage vor dem Internatio­nalen Schiedsger­icht in Den Haag eingereich­t. Die Osteuropa-Expertin Susan Stewart von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin nannte dies schon im Sommer eine „schwache Reaktion“und forderte „mehr internatio­nale Aufmerksam­keit, um eine Eskalation zu verhindern“.

Die Zuspitzung aber ist nun Realität. Für Poroschenk­os Wahlkampf ist die Lage gleichwohl eine Chance. Er kann sich als Macher präsentier­en, dem es schnell gelungen ist, die westlichen Verbündete­n auf die ukrainisch­e Seite zu ziehen: Die USA, die Nato, die EU und einzelne Staaten wie Deutschlan­d machten Russland für die Eskalation verantwort­lich. Wiederum anderersei­ts verwies Poroschenk­o am Montag mehrfach darauf, die Verhängung des Kriegsrech­ts sei keine Kriegserkl­ärung und die erhöhte Alarmberei­tschaft der Armee keine Mobilmachu­ng.

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FOTO: AFP Die von einem russischen Schiff blockierte Meerenge von Kertsch mit der neuen Brücke, darüber zwei russische Flugzeuge.

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