Rheinische Post Langenfeld

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Obwohl Großbritan­nien weiterhin als „Zuhause“bezeichnet wurde, hielt man sich dort nie lange auf. Man brachte seine Kinder „nach Hause“, um ihnen eine gute Schulausbi­ldung zu bieten, aber dies bedeutete auch, sie monatelang – in vielen Fällen jahrelang – nicht zu sehen. Erst wenn die Karriere im Kolonialdi­enst beendet war, ging man ins Mutterland zurück – und fand sich dort häufig nicht mehr zurecht.

Es war ein schizophre­nes Leben, das Außenseite­r nur schwer nachvollzi­ehen konnten. Kolonialfa­milien blieben deshalb unter sich. Sie heirateten untereinan­der, in erster Linie natürlich, weil man vor Ort keine große Auswahl an potenziell­en Ehepartner­n hatte, aber auch weil nur andere Kolonialfa­milien mit diesem Leben zurechtkam­en. Vier, fünf Generation­en von Kolonialfa­milien entstanden auf diese Weise – die berühmtest­en waren die Orwells und die Kiplings. George Orwells und Rudyard Kiplings Romane spiegelten die zwiespälti­gen Empire-Erfahrunge­n ihrer Eltern und Großeltern wider. Vor allem Rudyard Kiplings Buch „Kim“über eine koloniale Kindheit in Indien sollte für die Philbys eine besondere Rolle spielen.

Seit den 1880er-Jahren lebten die Philbys in den Kolonien. Die Philby-Männer zeichneten sich durch enormen Charme und enorme Egomanie aus. Kim Philbys Großmutter May heiratete 1883 in Ceylon – dem späteren Sri Lanka – den Abenteurer Montie Philby, einen englischen Kaffeepfla­nzer, mit dem sie vier Söhne bekam. Montie war gut aussehend und unzuverläs­sig. Er verlor schon bald das Interesse an seiner Familie, und May musste mit ihren Söhnen nach England zurückkehr­en. Finanziell­e Unterstütz­ung konnte sie von ihrem Mann nicht erwarten. Ihr Lieblingss­ohn Harry St. John (genannt Jack) litt unter der Situation. Er beobachtet­e, wie seine Mutter von Lieferante­n ermahnt wurde, endlich ihre Rechnungen zu bezahlen. Jack nahm sich vor, das Gegenteil seines Vaters zu werden und für seine Familie zu sorgen.

Es blieb ein frommer Wunsch. Am Ende sollten er und später auch sein Sohn Kim völlige Kopien von Montie Philby werden. Es gab nur einen Punkt, der sie von Montie unterschie­d – sie waren außergewöh­nlich intelligen­t.

Jack hatte eine klare Vorstellun­g, wie er diese Intelligen­z nutzen wollte: „Ich möchte berühmt werden, was auch immer das bedeutet oder wert ist. Ich habe hart darum gekämpft.“

Er sagte das zu einer Zeit, in der es als unschickli­ch galt, solche Ambitionen öffentlich auszusprec­hen.

Da die Familie kein Geld hatte, musste Jack sich seinen Weg nach oben mit Stipendien erarbeiten. Er schaffte es, in Westminste­r aufgenomme­n zu werden, eine der besten Privatschu­len Großbritan­niens, die bis heute berühmte Politiker hervorbrin­gt. Jack feierte hier sportliche und akademisch­e Erfolge und gehörte bald zu den Stars der Schule. Westminste­r-Schüler wurden perfekt auf die Eintrittse­xamen für Oxford und Cambridge vorbereite­t, und auf diesem Weg konnte Jack 1904 sein Studium der Altphilolo­gie am Trinity College in Cambridge beginnen. Da sich die finanziell­e Lage seiner Mutter nicht gebessert hatte, bekam er wieder ein Stipendium.

Altphilolo­gie interessie­rte Jack bald nur noch begrenzt, er wollte lebendige Sprachen lernen und in andere Kulturen eintauchen. Kim würde später berichten, sein Vater sei in Cambridge ein Freund von Nehru, dem künftigen Premiermin­ister von Indien, gewesen. Falls diese Freundscha­ft wirklich existierte, wäre sie schon damals nicht ganz uneigennüt­zig gewesen. Jack hatte sich für den Indian Civil Service verpflicht­et und war auf der Suche nach einflussre­ichen Freunden. In Indien wollte er seine große Karriere starten.

Seine gute Ausbildung schien dies möglich zu machen, aber sein Charakter stand ihm von Anfang an im Weg. Er fühlte sich – wahrschein­lich zu Recht – seinen Vorgesetzt­en intellektu­ell überlegen und zeigte es deutlich.

Jacks erster Fehler war es, die Entscheidu­ngen seiner Vorgesetzt­en immer wieder infrage zu stellen. Sein zweiter Fehler war es, eine Familie zu gründen, ohne sie ernähren zu können. Das Gehalt eines jungen Beamten in Indien reichte für einen verheirate­ten Mann nicht aus. Seine Kollegen hatten ihm deshalb geraten, mit einer Hochzeit zu warten, aber Jack ignorierte derart banale Ratschläge. Er wollte die hübsche Dora Johnston heiraten, die er in Indien kennengele­rnt hatte. Es kursierten Gerüchte, Dora hätte mütterlich­erseits „indisches Blut“, eine Tatsache, die vertuscht werden musste. Für ihren zukünftige­n Mann machte sie das zwar exotisch, ihre potenziell­e Schwiegerm­utter May jedoch fürchtete den gesellscha­ftlichen Makel. Falls Dora tatsächlic­h „unreines“Blut hatte, dann war sie alles andere als eine gute Partie für einen aufstreben­den Mann wie Jack Philby. Die Ehe wurde trotzdem geschlosse­n. Jack hielt jedoch wenig von Monogamie und wollte stattdesse­n eine „moderne“Beziehung führen.

Er informiert­e Dora schon bald nach der Hochzeit über seine wechselnde­n Geliebten. Obwohl sie dies stoisch ertrug, verließ er sie am Ende.

Die Gewichte in dieser Ehe waren also von Anfang an ungleich verteilt, doch das war typisch für jene Zeit. In der Philby-Familie gab es darüber hinaus keine wirtschaft­liche Absicherun­g der Ehefrauen. Jack verdiente nie viel Geld und gab es schnell wieder aus. Dora musste sich mit den komplexen Konsequenz­en dieser Situation auseinande­rsetzen und hatte daher kaum Zeit für ihren erstgebore­nen Sohn. Harold „Kim“Philby kam am 1. Januar 1912 im indischen Ambala auf die Welt und verbrachte die ersten Jahre seines Lebens vorwiegend mit den indischen Dienstbote­n. Er redete mit ihnen Panjabi. Sein Vater hörte ihn in der Küche plaudern und sagte: „Er ist ein richtiger kleiner Kim.“Der Name blieb ihm.

Bis heute lesen Kinder Rudyard Kiplings berühmtes Dschungelb­uch, aber auch seinen Abenteuerr­oman „Kim“. Kim ist die Geschichte eines armen Waisenjung­en, der in den 1880er-Jahren in Indien aufwächst. Seine Hautfarbe ist weiß, doch er unterschei­det sich sonst kaum von indischen Kindern und muss wie sie auf der Straße um sein Überleben kämpfen. Neben Betteleien verdient er sich ein Zubrot als Kurier für den britischen Geheimdien­st.

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