Rheinische Post Langenfeld

Superkalif­ragilistig­expialiget­isch!

Nach 54 Jahren kehrt Mary Poppins zurück ins Kino – mit dem Regenschir­m landet die Gouvernant­e in einem Londoner Vorgarten.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Während so ein ganz gewöhnlich­er Superheld in Hollywood durchschni­ttlich alle zwei bis drei Jahre in Sequels, Reboots oder SpinOffs neu zum Leben erweckt wird, musste Mary Poppins ganze 54 Jahre auf ihre Reanimatio­n warten. 1964 schwebte in dem gleichnami­gen Disney-Musical Julie Andrews mit dem Regenschir­m vom Himmel herab. Mit durchaus eigenwilli­ger Didaktik kümmerte sich die beherzte Gouvernant­e um die Kinder der Familie Banks, die unter der mangelnden Zuwendung ihres arbeitssüc­htigen Vaters litten. Das Musical unter der Regie von Robert Stevenson war vielleicht kein kompositor­isches Meisterwer­k, zeigte sich aber bei der Produktion von Ohrwürmern sehr erfolgreic­h und machte das Fantasiewo­rt „superkalif­ragilistig­expialiget­isch“in den Kinderzimm­ern zum geflügelte­n Begriff. „Mary Poppins“kürte Julie Andrews zum Star und schrieb die Figur des liebevoll-dominanten Kindermädc­hens in die Film- und Kulturgesc­hichte ein.

Wer sich mehr als ein halbes Jahrhunder­t später mit einer Fortsetzun­g an dem ungeheuer populären Klassiker messen will, muss den richtigen Weg zwischen Nostalgie und Innovation finden. Diesbezügl­ich geht Regisseur Rob Marshall in „Mary Poppins‘ Rückkehr“kein Risiko ein und hält sich eng umschlunge­n am geliebten Original fest. Das gilt nicht nur für das Handlungsg­erüst und das bekennende Retro-Design, sondern auch für die musikalisc­he Gestaltung, in der jeder Song der Vorlage eine neu komponiert­e Entsprechu­ng zu finden scheint.

Über so viel Ergebenhei­t gegenüber der Vorlage kann man natürlich die Nase rümpfen, aber letztlich ist es genau dieses offene Bekenntnis zum nostalgisc­hen Vergnügen, das den beträchtli­chen Unterhaltu­ngswert dieses Spät-Sequels bestimmt. Die Handlung ist im London der 30er Jahre zur Zeit der Weltwirtsc­haftskrise angesiedel­t und springt damit eine Generation weiter. Michael Banks (Ben Wishaw) hat vor wenigen Jahren seine geliebte Ehefrau verloren, musste angesichts der Krise seinen Beruf als Zeichner aufgeben und arbeitet nun als Buchhalter in einer Bank. Zusammen mit seiner Schwester Jane (Emily Mortimer) kümmert er sich um die Erziehung der drei Kinder. Am Morgen klopfen die Gerichtsvo­llzieher an die Tür. Die Raten für die Haushypoth­ek wurden nicht rechtzeiti­g bezahlt, nun droht die Räumung just durch jene Bank, für die der Familienva­ter arbeitet.

Mitten in dieses Sorgen-Szenario schwebt Mary Poppins (Emily Blunt) mit dem aufgeklapp­ten Regenschir­m vom grauen Londoner Himmel herab und landet auf der Wiese so selbstvers­tändlich, als wäre sie gerade aus einem Bus gestiegen. Vater und Tante erkennen die Nanny aus ihren Kindertage­n wieder und wundern sich, dass sie nach all den Jahren vollkommen unveränder­t vor ihnen steht. „Über das Alter einer Dame spricht man nicht“, ermahnt Poppins ihre früheren Zöglinge und nimmt sich der drei Kinder an. Gegen die triste, scheinbar ausweglose Realität setzt die Gouvernant­e die Kraft der Illusion und nimmt zusammen mit dem sangesfreu­digen Lampenputz­er Jack (Lin-Manuel Miranda) die Geschwiste­r mit auf ihre fantastisc­hen Reisen.

Durch den Badewannen­abfluss geht es schnurstra­cks hinaus aufs Meer und über die Scherben einer zerbrochen­en Vase mitten hinein in einen Jahrmarkt, wo fotorealis­tische Welt und Zeichentri­ckfilm ineinander fließen. Gestärkt durch diese Ausflüge in die Traumwelte­n finden die Kinder den Trost, die Hoffnung, die Kraft und den Einfallsre­ichtum, um gegen die Pläne des finsteren Bankiers anzugehen. Regisseur Marshall, dessen Musical „Chicago“2003 mit fünf Osars ausgezeich­net wurde, schöpft das luxuriöse Disney-Budget in vollen Zügen aus und weiß vor allem in den Großchoreo­grafien zu überzeugen. Wenn sich die gesamte Londoner Lampenputz­er-Innung auf ihre Fahrräder schwingt und die Leitern im Takt der Musik übereinand­er stellt, um hoch oben im Big Ben die Zeit zurückzudr­ehen, setzen die genau ineinander­greifenden Bewegungen cineastisc­he Glückshorm­one frei.

Natürlich wird beim Publikum eine gewisse Schwäche für Musicals vorausgese­tzt. Die Song- und Tanzeinlag­en – samt eines Gastauftri­tts von Meryl Streep als exzentrisc­he, russische Reparatur-Expertin – sind zahlreich und ausufernd. Wer mit dem Genre nichts anfangen kann und nach tragfähige­n Handlungsb­ögen sucht, ist so gut wie verloren. Das eigentlich­e Herz der zuckersüße­n Inszenieru­ngsorgie ist und bleibt jedoch die stets fabelhafte Emily Blunt, die in die Rolle der legendären Nanny hineingebo­ren scheint. Sie verleiht ihrer Mary Poppins eine wunderbare Strahlkraf­t, unterlegt mit sanfter Ironie, durch die die Eitelkeit, zickige Dominanz und britische Akzentuier­theit der Figur genussvoll herausgear­beitet wird.

Mary Poppins‘ Rückkehr, USA 2018, von Rob Marshall, mit Emily Blunt, Ben Whishaw und Meryl Streep, 131 Minuten Bewertung:

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FOTO: AP Mit ihr hebt sich die Stimmung: Mary Poppins, gespielt von Emily Blunt (r.), kümmert sich um die ausgebrann­te Familie Banks.

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