Rheinische Post Langenfeld

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Bei ihrer ersten Begegnung 1934 hatte Deutsch sein Leben für immer verändert. Er hatte einen Mann getroffen, der ihm wesensverw­andt war. Der all das, was Philby gerade durchlebte, bereits durchlebt und durchdacht hatte und der ihm helfen konnte, es zu verstehen. Was hätte verführeri­scher sein können? Über vierzig Jahre nach der Begegnung beschrieb Philby in seinem KGB-Vortrag, wie fasziniere­nd Deutschs Idealismus und Mut auf ihn gewirkt hatten.

Was er nicht erwähnte, war, dass Deutsch für ihn das Gegenteil seines egomanisch­en Vaters verkörpert­e, der sich immer nur dafür interessie­rt hatte, was sein Sohn leistete. Arnold wollte wissen, was er fühlte. Er war ein guter

Psychologe, der schnell erkannte, dass Kim Philby einen Übervater hatte, an dem er litt. Aus diesem Grund gab er Kim den passenden Codenamen „SÖHNCHEN“. In seinem Bericht nach Moskau fasste Deutsch zusammen, wie wichtig SÖHNCHEN werden könnte:

„SÖHNCHEN kommt aus einer merkwürdig­en Familie. Sein Vater (zurzeit Berater von König Ibn Saud von Saudi-Arabien) gilt als der beste Experte der arabischen Welt [ . . .] Er ist ein ehrgeizige­r Tyrann, der aus seinem Sohn einen bedeutende­n Mann machen will. Er unterdrück­te alle Wünsche seines Sohnes. Deswegen ist SÖHNCHEN eine sehr ängstliche Person. Er stottert etwas, und das verstärkt noch seine Schüchtern­heit.“

Anfangs schien Deutsch sogar viel mehr am Vater als am Sohn interessie­rt zu sein. Jack Philby war ein einflussre­icher Berater in einer der ölreichste­n Gegenden der Welt. Informatio­nen von ihm wären für den sowjetisch­en Nachrichte­ndienst daher nützlich gewesen.

Der Vater stellte also den Hauptgrund für die Rekrutieru­ng des Sohnes dar. Kim war 1934 nur ein idealistis­cher junger Mann, und niemand ahnte damals, was für eine große berufliche Zukunft er noch vor sich hatte. Ob Kim seinen Vater bespitzelt­e und Informatio­nen über ihn an Arnold Deutsch lieferte, konnte bis heute nicht belegt werden. Es ist jedoch durchaus möglich, denn Deutsch kam in seinem Bericht zu dem Fazit, dass SÖHNCHEN alles für die Sowjetunio­n tun würde. Tatsächlic­h empfahl Kim bei diesem ersten Treffen gleich zwei weitere Kandidaten, die Deutsch ansprechen sollte: seine Studienfre­unde Guy Burgess und Donald Maclean.

Am Ende des Parkgesprä­chs fragte Deutsch seinen neuen Agenten, wie er denn jetzt nach Hause kommen würde. Kim hatte geplant, einfach nur den Bus zu nehmen, aber Deutsch lachte und sagte: „Nein, nein, es geht alles wieder von vorne los. Zu deiner eigenen Sicherheit musst du mindestens zwei Stunden lang durch die Stadt fahren, damit dir niemand folgen kann.“Kim hatte bereits sein ganzes Geld für die komplizier­te Hinfahrt mit Edith ausgegeben und nur noch einen Shilling übrig. Arnold schenkte ihm ein Pfund. Es war das einzige Gehalt, das Philby vom sowjetisch­en Geheimdien­st annahm.

Er würde für die Sowjetunio­n umsonst arbeiten.

Um zu verstehen, warum dieses Parkgesprä­ch ein so großer Erfolg war, ist es wichtig, sich Arnold Deutsch genauer anzusehen. Ihm und seinem Vorgesetzt­en Orlow war es zu verdanken, dass die Sowjetunio­n fast dreißig Jahre lang das beste Spionagene­tz in Großbritan­nien hatte, das man sich wünschen konnte.

Deutsch war ein Produkt der Habsburger Monarchie, und vielleicht war es kein Zufall, dass seine Codenamen Otto und Stephan einen K.u.k.-Klang hatten – sie erinnerten an den ewigen Thronfolge­r Otto von Habsburg und natürlich an Ungarns Stephanskr­one. Die Wahl dieser Codenamen entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn Deutsch war alles andere als ein Monarchist.

Er wurde am 21. August 1904 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren. Die Familie lebte im Zweiten Bezirk, den die Wiener nur die „Mazze-Insel“nannten. In gewisser Weise war es tatsächlic­h eine Insel. Hier wohnte die jüdische orthodoxe Bevölkerun­g, und hier gab es in den Bäckereien an Feiertagen Matzebrote zu kaufen. Außerhalb der Insel regierten Karl Lueger, Wiens antisemiti­scher Bürgermeis­ter, und seine zahlreiche­n Anhänger. Für die Juden im Zweiten Bezirk war Lueger ein Schreckges­penst, für Adolf Hitler sollte er zu einem wichtigen Stichwortg­eber werden.

Es zeugte von Deutschs Durchsetzu­ngskraft und hoher Intelligen­z, dass er es trotz Diskrimini­erung schaffte, seine Doktorarbe­it in Chemie mit vierundzwa­nzig Jahren abzuschlie­ßen.

Dass er einer Minderheit entstammte, die permanent um Anerkennun­g kämpfen musste, gab Arnold Deutsch von Anfang an einen anderen Blick auf die Welt. Dieser Blick wurde noch geschärft durch die Besonderhe­iten der Habsburger­monarchie. Im Zentrum eines Vielvölker­staates aufzuwachs­en verschafft­e ihm eine gewisse Weltläufig­keit. Er hatte früh gelernt, über den ethnischen und nationalen Tellerrand hinauszubl­icken. Da er seine jüdischen Wurzeln als Belastung empfand, wurde er ein Außenseite­r in mehreren Welten. Das muss einer der Gründe gewesen sein, warum er und Kim Philby einander auf Anhieb erkannten. Auch Philby war durch sein Pendeln zwischen Empire und England mit dem Gefühl der Ortlosigke­it vertraut. Deutsch verstand das sofort. Er selbst fühlte sich schon lange nicht mehr jüdisch oder österreich­isch, als er Philby im Regent‘s Park traf. Er hatte sich ein völlig neues Leben geschaffen. Der Kommunismu­s war für ihn seine Familie, seine Heimat und sein einziger Glaube geworden. Philby bewunderte diese Radikalitä­t an Arnold, und er würde ihm in jeder Hinsicht folgen.

Als Deutsch auf einer Parkbank Kim Philby rekrutiert­e, war er selbst erst dreißig Jahre alt. Trotzdem hatte er bereits das auslaugend­e Leben eines achtzigjäh­rigen Schwerstar­beiters hinter sich.

Arnold Deutsch gehörte zu einer Pioniergen­eration von Agenten, die ganz von vorne anfangen mussten. Nach dem Sturz des zaristisch­en Spionagene­tzwerks 1917 sollte ein sowjetisch­es aufgebaut werden – zwangsläuf­ig mit neuem Personal. Anfangs wurden alle Ressourcen auf die Aufspürung von Weißgardis­ten gerichtet. Später erhielt die Verfolgung.

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