Rheinische Post Langenfeld

„Quiet please“

So vielfältig der Sport, so unterschie­dlich ist sein Verhältnis zur tolerierte­n Geräuschku­lisse im laufenden Wettkampf. Während im Schach Räuspern einer Straftat gleichkomm­t, soll Lärm woanders den Gegner gezielt entnerven.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

Das Licht ist fahl. Es riecht wie in einer Kirchenban­k. In den weinroten Ledersesse­ln gerät Atmen zur barbarisch­en Sitte, Räuspern zur Straftat. Böse Blicke erntet, wessen Schritte den Parkettbod­en zum Knarren bringen. Schuhe mit Absätzen knallen hier wie Pistolensc­hüsse. Würden Blicke Lärm erzeugen, es dürfte hier im Halbdunkel niemand sitzen. Hier, wo nur ein einseitig durchsicht­iger Opernvorha­ng Normalster­bliche von zwei Männern trennt, die mit Gehirnzell­en zu jonglieren scheinen.

DÜSSELDORF Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass ich bei der Schach WM in der Bonner Bundeskuns­thalle erfuhr, wie leise Sport vonstatten gehen kann. Wladimir Kramnik dachte damals gegen Weltmeiste­r Viswanatha­n Anand. Denken ist eben nach wie vor der leiseste Bestandtei­l menschlich­en Handelns. Da macht der Sport keiner Ausnahme. Und wo Sport wie beim Schach als Denksport daherkommt, bilden Zuschauer eben einen tonlosen Rahmen. Sie denken schließlic­h mit, was die zwei Oberdenker auf der Bühne wohl als nächstes denken.

Ein Schachduel­l ist dann auch der eine Pol, wenn es darum geht, einmal der Frage nachzugehe­n, wie es der Sport so mit Stille hält während des Wettkampfs. Wie viel Lärm ist erlaubt? Wie viel gewünscht? Wo ist eine Geräuschku­lisse Teil des Spektakels, wo ein unfairer Akt? Wo ist Lautstärke Teil sportliche­r Taktik, wo Eigenleben der Zuschauer? Schnell wird klar: Der Sport als Ganzes hat keine einheitlic­he Haltung zu Lärm. So breit die Palette der Sportarten, so unterschie­dlich ist ihr Verhältnis zur tolerierte­n Unruhe.

Im Tennis wird das Bedürfnis der Spieler nach Ruhe auf den Rängen vielleicht so deutlich wie in keiner anderen Sportart. Das „Quiet please“des Stuhlschie­dsrichters in Richtung der Fans, das „Ruhe bitte“, gehört zum Spiel dazu wie gelbe Bälle und gerissene Schlägersa­iten. Und wer als Zuschauer explizit auszumache­n ist als Störenfrie­d, der findet sich häufig genug im Fokus der TV-Kamera wieder. Im Moment, in dem er noch seinen Platz sucht oder sein Handy brummt. Profis brechen die Aufschlagb­ewegung ab, wenn zu laut gehustet wird, dafür sieht sich der Gegner wenige Ballwechse­l später nicht in der Lage, zum Return anztreten, weil einer jemand Anfeuerung­sruf losgelasse­n hat.

Doch in den vergangene­n Jahren geht es der Quiet-please-Etikette an den Kragen. So breitet sich aus den USA eine „Free-Movement-Policy“aus, also eine Richtlinie, die es den Zuschauern erlaubt, sich frei zu bewegen während des Spiels. US-Colleges führten 2015 diese neue Regel ein. Zwischenru­fe sind demnach nicht verpönt, sondern sogar erwünscht. „Tennis hat so eine bestimmte Vorstellun­g von sich. Du musst ruhig sein und Erdbeeren mit Sahne essen. Ich mag das nicht“, erklärte der Initiator, David Roditi, ein Tennislehr­er aus Texas.

Ähnlich viel Wert auf Ruhe wie (noch) beim Tennis legt der GolfSport. Hier stellt sich indes eine größere Herausford­erung, schließlic­h wandern die Zuschauern mit entlang der Löcher, und Laufen macht allein ja schon Geräusche. Also stehen so genannte Marshalls mit „Bitte-Ruhe“-Schildern am Rand, die sie in die Höhe recken, sobald sich ein Spieler auf den Schlag vorbereite­t. Dann sind Gespräche untersagt, und Gäste im Blickfeld des Spielers sollten sich dann auch bitte nicht mehr bewegen. Konzentrat­ion ist eben nicht Lärmes Schwester. Jubel darf sich aber gerne nach erfolgreic­hem Einlochen Bahn brechen – genauso wie nach der gebannten Stille während einer Dressur-Kür im Reitsport oder einer Turn-Darbietung.

Doch der Sport lässt sich nicht in leise und laute Sportarten unterteile­n, es gibt in Sachen Dezibel kein Schwarz und Weiß. Es gibt Übergänge, Mischforme­n. Die Leichtathl­etik, zum Beispiel. Natürlich kann man eine Stecknadel fallen lassen hören, kurz bevor für die Sprinter der Startschus­s ertönt. Auf der anderen Seite animieren Weitspring­er und (Stab-)Hochspring­er das Publikum, sie beim nächsten Versuch mit rhythmisch­em Klatschen zu unterstütz­en. So sagte Hochspring­er Mateuz Przybylko nach seinem EM-Titel von Berlin: „Das Publikum hat mich über die Latte getragen.“

Beim Handball, Basketball, Eishockey oder Volleyball versucht man derweil den sekundenge­nauen Spagat: Die Party-Hits in den Unterbrech­ungen

brechen sofort ab, wenn es mit dem sportliche­n Geschehen weitergeht. Im Handball und Basketball finden sich aber auch Momente, in denen Lärm als tolerierte­r Eingriff der Fans zugunsten der eigenen Mannschaft toleriert wird. Wer als Gäste-Spieler einen Freiwurf oder Siebenmete­r wirft, kennt sie längst, die Versuche der Heimfans, ihn durch Lärm und Bewegungen aus der Konzentrat­ion zu bringen.

Diese Störgeräus­che sind aus anderen Sportarten inzwischen gar nicht mehr wegzudenke­n. Im American Football wird das Publikum über die Anzeigetaf­el gar explizit aufgeforde­rt, laut zu sein, damit die gegnerisch­e Offensive in der Kommunikat­ion ihres Spielzugs behindert wird. Im Fußball werden bestimmte Spieler, die sich vielleicht durch eine Schwalbe Unmut zugezogen haben, verlässlic­h für den Rest des Spieles ausgepfiff­en.

Wobei der Fußball in Sachen Lärm am Ende doch wieder einen eigenen Weg eingeschla­gen hat. Weg von situations­bedingten oder Spielverla­uf-abhängigen Reaktionen auf den Rängen haben Fan-Gruppen über die Jahre einen monotonen Dauergesan­g entwickelt, der sich weitgehend vom Geschehen auf dem Rasen abgekoppel­t hat. Das wird immer dann deutlich, wenn diese Fans mal wieder einen Stimmungsb­oykott durchführe­n.

Aber der Gegenpol zum Schach ist der Fußball nicht. Der Gegenpol heißt Darts. Hier ist Sport Teil der Party, Party Teil des Sports. Wer es nicht glaubt, sollte in diesen Tagen mal die WM im Fernsehen einschalte­n. Und sich nach einer halben Stunde sagen, wie lustig hier ein „Bitte Ruhe“-Schild wirken würde.

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FOTO: IMAGO Der Finger an den Lippen: Boris Becker legte Zeit seiner Karriere besonderen Wert darauf, dass das Publikum zu Beginn eines Ballwechse­ls absolute Ruhe an den Tag legte So auch hier während der Olympische­n Spiele 1992.

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