Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Es war nicht so schwer, wie sie anfangs gedacht hatte. Die meisten Leute waren so mit sich beschäftigt, sie bekamen sowieso nicht mit, was um sie herum geschah. Sie starrten auf Handys oder hörten irgendetwas über Kopfhörer. Nur wenige nahmen ihre Umgebung überhaupt noch wahr. Großstädte waren daher für Treffen ideal, und sie hätte am liebsten alles in London erledigt. Aber sie lebte nun einmal in Cambridge, und deswegen musste sie die meisten Dinge hier organisieren. Sie sorgte jedoch dafür, dass sie für jedes Treffen gut vorbereitet war. Sie nannte es das RoomReading. Einen Raum zu betreten und instinktiv zu spüren, ob er sicher war. Wenn sie ein Lokal oder Geschäft für ein Treffen aufsuchte, hatte sie gelernt, die Atmosphäre des Raumes sofort zu erfassen. Verhielten sich die Leute in diesem Raum, wie man es erwarten konnte, oder stimmte etwas nicht? Es waren Kleinigkeiten, die zählten. Wieso schaute diese unscheinbare Hausfrau da drüben einen Katalog für Sportwagen an? Wieso vermied der Mann in der Lederjacke jeglichen Blickkontakt mit ihr?
Wenn sie das Gefühl hatte, dass es kein sicherer Ort war, ging sie sofort wieder. Sie verließ sich auf ihre Intuition. Vielleicht war sie zu misstrauisch und bildete sich gelegentlich Gefahren ein, die nicht existierten, aber es war besser, misstrauisch zu sein, als etwas zu riskieren. Es gab ein klares Protokoll für die Treffen. Wenn ein Termin nicht wahrgenommen werden konnte, dann hatte man mindestens zwei Ausweichtermine, die an anderen Orten angesetzt waren. Den zweiten Termin hielt sie fast immer ein. Es war ihr noch nie passiert, dass sie auf Termin drei hätte ausweichen müssen.
8. November 2014 Waitrose-Supermarkt Trumpington
Jasper konnte es nicht fassen. Diese Stadt war verflucht, sie war gegen ihn in jeder Hinsicht. Zuerst die Sache mit Hunt in der Bibliothek und jetzt das hier. Er war den ganzen Weg zum Waitrose-Supermarkt nach Trumpington geradelt, um sich sein Lieblingsmikrowellenfertiggericht zu kaufen, weil der englische Collegefraß nicht länger zu ertragen war. Bei Waitrose hatte er sein neues, teures Mountainbike an ein Gitter gekettet, und jetzt war es verschwunden. Er hatte es sich erst vor drei Wochen nach langem Überlegen gekauft. Cambridge war nicht Stanford, das hatte er mittlerweile begriffen. In Stanford besaßen alle Studenten Autos, um nach San Francisco zu fahren und ein bisschen Spaß zu haben, aber hier in Cambridge hatte man kein Auto, man hatte ein Rad. Selbst alte Säcke wie Hunt fuhren hier Rad. Neulich hatte Jasper eine Oma, die freundlich geschätzt wie hundertacht aussah, auf einem knallgelben Rad gesichtet. Die Alte hätte ihn beinahe überholt. Wahrscheinlich war sie im Zweiten Weltkrieg bei irgendeiner Spezialeinheit gewesen. In dieser Stadt konnte man nie sicher sein, was die alten Leute früher so getrieben hatten.
Egal welchen Alters, Radfahren schien für alle hier so eine Art Kult zu sein. Der Historiker Richard Evans twitterte seiner Leserschaft, wenn er einen Radunfall hatte, und Professor Mary Beard, die mit ihren wirren grauen Haaren unbegreiflicherweise ein Medienstar in diesem Land war, schrieb sogar Artikel darüber, warum man am Cambridger Bahnhof dringend mehr Fahrradständer aufstellen solle.
Diese Leute waren Jaspers Meinung nach alle nicht bei Verstand. Radfahren in Cambridge war lebensgefährlich. Es gab kaum Radwege, aber jede Menge wahnsinniger Autofahrer, die ihr sadistisches Vergnügen daran hatten, Radfahrer zu schneiden. Und ganz offensichtlich gab es auch jede Menge Fahrraddiebe. Man hatte ihn davor gewarnt, dass so etwas passieren könnte, und er hatte sich deswegen extra dieses teure Schloss für dreißig Pfund gekauft. Augenscheinlich war das Teil nicht stark genug. Es lag auf dem Boden, der Dieb musste es mit einem Bolzenschneider aufgeknackt haben.
Jasper überlegte keinen Moment lang, zur Polizei zu gehen. Seiner Erfahrung nach brachte das nie etwas, und es war sowieso besser, nicht aufzufallen. Eine Versicherung hatte er nicht, er würde also morgen ein neues Rad kaufen müssen, möglichst ein sehr altes, das kein Mensch klauen wollte. Es war wirklich eine Scheißsituation. Er musste jetzt mit den schweren Einkaufstüten den ganzen Weg zurück zu seinem College laufen. Alles kotzte ihn hier langsam an. Das Wetter, die arroganten Briten, die ganze Uni. Die Sache mit den Röhrchen in der Bibliothek war allerdings am schlimmsten. Es war ihm immer noch nicht klar, wie Hunt darauf reagieren würde. Würde er es dem College melden, oder würde er es ignorieren?
Jasper erinnerte sich daran, dass Hunt dieser Hippiegeneration der Siebzigerjahre angehörte, die ständig gekifft hatte. Und er hatte sie neulich alle zu einem Wodka eingeladen. Vielleicht konnten ihn Drogen also doch nicht schocken? Idealerweise war er selbst einmal wegen Drogenmissbrauchs mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es würde schwer sein, das nach so langer Zeit in Erfahrung zu bringen. Aber es war immerhin eine Möglichkeit. Es gab sicher noch eine Studentenzeitung aus der Zeit. Vielleicht wurde Hunt ja in den Ausgaben der 1970er-Jahre erwähnt. Es würde mühsam sein, das ganze alte Zeug zu lesen, aber je mehr er über Hunt wusste, umso besser. Nicht, dass er ihn erpressen wollte, er brauchte einfach nur eine Rückversicherung – für alle Fälle.
Die Einkaufstüten waren schwer, aber er hatte es jetzt endlich zum College geschafft. Durch die Fensterscheiben des Fitnessraums konnte er Wera am Ergometer trainieren sehen. Sie schien seit Neuestem ein Ruderfan zu sein, wahrscheinlich lag das an David. Mit seinen melancholischen Augen hatte der Junge anscheinend bei allen Frauen Erfolg. Jasper überlegte kurz und entschied sich dann, in den Fitnessraum zu gehen.
„Sieh an, sieh an. Seit wann ruderst du, Wera?“
Er stellte seine Tüten ab und setzte sich neben sie. Sie schien nicht begeistert zu sein, ihn zu sehen. Wahrscheinlich konnte sie nicht beides – reden und rudern. Er nahm eine Wasserflasche aus seinen Einkaufstüten und bot sie ihr an. Sie griff dankbar danach. „Anstrengender, als ich dachte.“Jasper nickte. Sport interessierte ihn nicht. „Sag mal, du hattest doch gerade eine Supervision mit Hunt. Wie alt ist er eigentlich?“