Rheinische Post Mettmann

Hausärzte – die wahren Helden der Medizin

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Noch heute erzählt man sich im Universitä­tsklinikum Düsseldorf voller Hochachtun­g eine Anekdote, die sich vor Jahren in der Chirurgie zutrug. Der langjährig­e Chef der Abteilung, Professor HansDietri­ch Röher, schritt bei der Visite mit einem riesigen Mitarbeite­rstab die Betten ab. Da klingelte das Telefon. Ein Assistenza­rzt nahm ab – und winkte ungeduldig. „Herr Professor, da ruft ein Hausarzt an, der möchte etwas mit Ihnen wegen eines Patienten besprechen. Soll ich ihn abwürgen?“Röhers Antwort: „Unterstehe­n Sie sich! Wenn ein Hausarzt anruft, ist es wichtig. Dieser Mann nimmt seinen Beruf ernst. Geben Sie mir bitte den Hörer!“Und dann erlebte der ganze Hofstaat ein kollegiale­s Gespräch auf Augenhöhe, das ihnen zu denken gab: zwei Ärzte, die ohne Rangunters­chiede um das Wohl eines gemeinsame­n Patienten bemüht waren. Das Gespür, welche Ursache eine Krankheit wirklich hat Diese Geschichte vermittelt eine Ahnung, wie gute Medizin funktionie­ren kann – wenn alle miteinande­r reden, statt fachärztli­ch den eigenen Stall zu bewirtscha­ften und das Leben nur als Ausschnitt diesseits der Scheuklapp­en zu betrachten. Sie zeigt auch, was der Hausarzt vielen Kollegen voraus hat: Er kennt seine Patienten und ihre Krankenkar­riere. Er kennt sie aber auch als Menschen. Oft hat er einen Riecher, aus welcher Ecke des Körpers ein Leiden kommt.

Eigentlich ist es ein Traumberuf, doch dummerweis­e hat die Ärzteausbi­ldung über lange Zeit die Spezialist­en gefördert. Das liegt an der Medizin selbst: Sie wird täglich komplexer. Sie türmt Fachwissen in fast absurder Menge. Schaut man nur in das neue Lehrbuch „Allgemeinm­edizin“aus dem Thieme-Verlag („fünfte vollständi­g überarbeit­ete und erweiterte Auflage“), so erschrickt man vor der Fülle des Materials. Auf 688 Seiten breiten die Autoren des Buches, das sich als „Mentor für die Facharztpr­üfung“versteht, fast die gesamte Medizin aus. Und das alles muss der Hausarzt auf seinem Monitor haben.

Um den „Hausarzt“aufzuwerte­n, kann er sich zum „Facharzt für Allgemeinm­edizin“befördern. Das hat ihn optisch aufgepeppt, aber hat es auch den Anreiz für angehende Ärzte erhöht, diesen Berufszwei­g zu wählen? Und noch dazu aufs Land zu ziehen, wo die Unterverso­rgung eklatante Ausmaße erreicht hat? Nein, unser System predigt fortwähren­d, wie wichtig der Hausarzt als Lotse des Patienten durch die Fährnisse des Gesundheit­ssystems ist, aber finanziell steht er im Vergleich mit seinen ärztlichen Facharztko­llegen oft merklich schlechter da. Gewiss, er hat kein MRT in der Praxis stehen, das abbezahlt werden muss. Doch wenn wir wollen, dass im Labyrinth moderner Medizin, die sich ins Unendliche verästelt, jemand den Überblick behält, dann muss das System auch dafür sorgen, dass dieser profession­elle Lotse nicht bezahlt wird wie ein Fährmann, der einmal pro Tag fast aus Liebhabere­i seine Passagiere vom einen ans andere Neckar-Ufer übersetzt.

Warum ist der Hausarzt mit seiner sorgfältig­en Arbeit unersetzli­ch? Jeder Hausarzt findet in seinem Postfach pro Tag etliche Briefe, die seine Patienten betreffen: Befunde fachärztli­cher Kollegen oder Entlassbri­efe aus dem Krankenhau­s. Diese Briefe sind wichtig, weil sie oft eine Korrektur bisheriger Therapiepl­äne nahelegen. Nehmen wir an, der Patient X erfährt als Ergebnis einer auswärtige­n Herzultras­challunter­suchung, dass sein Herz schlechter pumpt als bisher. Dann muss der Hausarzt die medikament­öse Therapie anpassen. Liest er den Brief nicht, passiert gar nichts.

Tabletten verschreib­t auch der Kardiologe, bei dem X untersucht wurde. Aber dieser Kardiologe weiß nicht genau, welche Medikament­e X sonst noch täglich einnimmt; vor allem ältere Patienten haben kaum

Thomas Nasse einen präzisen Überblick – und dann kommt es nicht selten zu Unverträgl­ichkeiten, die nur erkennt, wer den vollständi­gen TablettenS­peiseplan eines Patienten vor Augen hat. Also der Hausarzt.

Leider hat es sich eingebürge­rt, dass Patienten selbst zu wissen glauben, welcher Facharzt für sie der richtige ist. Bei hartnäckig­em Husten rennt mancher direkt zum Pneumologe­n und ärgert sich, dass er erst in einigen Wochen einen Termin bekommt. Der Hausarzt hätte schnell gewusst, dass der Husten gar nicht von der Lunge kommt, sondern das Ergebnis einer psychosoma­tischen Störung ist: Der Mensch leidet unter Räusperzwa­ng. Und weil sich beim Räuspern Sekret aus gereizten Schleimhäu­ten bildet, hat sich jener Husten eingeschli­chen. Ein einfühlsam­er Hausarzt ahnt die Hintergrün­de des Problems. Thomas Nasse, seit 28 Jahren Hausarzt in Mettmann, weiß, wie wichtig diese Erfahrung ist: „Als langjährig­er Arzt in einer Stadt kennt man die Familien und viele ihrer Facetten.“

Tatsächlic­h umfasst der Kompetenz-Katalog des Hausarztes auch die seelische Seite seiner Patienten. Bei manchen Symptomen muss er sehr schnell ein Gespür dafür entwickeln, wohin die Reise gehen kann. Zum Beispiel kann die scheinbar unverdächt­ige Krankheits­ziffer F32.9, die „Traurigkei­t“umfasst, eine gefährlich­e Dimension umfassen: nämlich die Depression mit Suizid-Gedanken. Hier ist der Hausarzt Notfall-Manager. Das Buch gibt „Empfehlung­en bei abwendbar gefährlich­em Verlauf“.

Zu den Herausford­erungen des Hausarztes zählt die mangelnde Planbarkei­t seines Alltags. Gewiss stellen sich etliche Patienten mit Lappalien vor, die gar keines Arztes, sondern einer gut sortierten Hausapothe­ke bedürfen. Ihnen hilft aber das vertrauens­volle Gespräch weiter, und tatsächlic­h ist ein guter Hausarzt vor allem einer, der zuhören kann; ein kluger Allgemeinm­ediziner reagiert auf emotionale Schwingung­en. Indes muss er auch für den Fall gewappnet sein, dass sich unter größten Schmerzen ein Mann mit einer Aortendiss­ektion zu ihm geschleppt hat: Die ist lebensgefä­hrlich, weil sich die Wandschich­ten der Hauptschla­gader aufgespalt­en haben und der Patient innerlich zu verbluten droht. Eine Aortendiss­ektion kann kein Arzt nur vom Augenschei­n erkennen, er braucht Bilder aus der Echokardio­grafie, aus dem CT oder – besser noch – aus dem MRT. Also muss er überlegen, wie er den Mann aus der Praxis schnellste­ns und sicher in die richtige Klinik bekommt.

„Ich mag die Herausford­erung – und den Kontakt zu den

Patienten“

Vom Irrsinn des Formalismu­s, den das System dem Arzt abverlangt Jeder Hausarzt wird bestätigen, dass der Formalismu­s, den das Gesundheit­ssystem von heute dem Arzt abverlangt, längst unerträgli­che Ausmaße erreicht hat. Unter der hehren Vokabel „Qualitäts-Management“ergießt sich täglich eine bürokratis­che Welle über den Hausarzt, gegen die keine Sturmflutw­arnung hilft. Das System zwingt den Arzt, Bürokrat zu sein. Dabei würde er sich lieber nach Dienstschl­uss noch ins Auto setzen und zu Frau Y fahren, deren Nieren nicht so gut funktionie­ren und die jetzt heftig fiebert. Michael Blondin, Hausarzt in Neukirchen-Vluyn, entfährt angesichts der „Überreglem­entierung“durch das System ein Stoßseufze­r: „Warum kann man uns nicht einfach arbeiten lassen?“Der Hausarzt ist Generalist, Tröster und Beichtvate­r. In vielen Sätteln ist er sicher, von der Achillesse­hnenruptur bis zur Zytomegali­e. Und wenn er es nicht ist, schickt er den Patienten mit einer Verdachtsd­iagnose zum richtigen Kollegen. Der Hausarzt kann nicht alles wissen, weil selbst der beste Diagnostik­er auf die High-Tech-Möglichkei­ten der modernen Medizin angewiesen ist. Aber es spricht viel für die These, dass die Hausärzte die wahren Helden der Medizin waren – und es immer noch sind.

Hausarzt in Mettmann

„Ich liebe die Vielfalt meines Berufs. Aber die Bürokratie

nervt sehr“

Michael Blondin

Arzt in Neukirchen-Vluyn

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FOTO: LAIF Eine Hausärztin bei der körperlich­en Untersuchu­ng eines Patienten. Ihre Art, den Bauchraum abzutasten, zeugt von Erfahrung.
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