Montecristo
Jonas blickte zur vierten Etage hinauf. Die Fenster von Max’ Wohnung waren schwarze Löcher, die Fassade darüber bis zum Flachdach rußgeschwärzt. In der Gruppe von Reportern und Schaulustigen entstand Unruhe. Aus dem Eingang kamen Feuerwehrmänner mit einer Rollbahre, auf der ein schwarzer Leichensack lag. Zwei Männer in dunklen Overalls fuhren einen Sarg herbei und betteten den Körper um. Sie benötigten die Hilfe der beiden Feuerwehrleute, so schwer war er.
Er rief Marina noch von der Brandstelle aus an. Sie sagte: „Nimm ein Taxi zu dir, ich komme.“
Eine halbe Stunde später war sie in seiner Wohnung und schloss ihn in ihre Arme wie ein Kind, das Trost brauchte.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer, brachte ihm ein Bier und fragte: „Willst du darüber reden?“Er schüttelte den Kopf. „Willst du allein sein?“„Vielleicht ein bisschen.“Sie küsste ihn auf die Wange. „In zehn Minuten schau ich wieder rein. Wenn du mich früher brauchst, ruf einfach.“
Er hörte sie in der Küche hantieren und dachte, wie einsam Max doch gewesen sein musste in dieser vermüllten Wohnung, in der die einzigen Geräusche die waren, die er selbst erzeugte.
Vielleicht hätte er sich mehr um ihn kümmern sollen. Er wusste ja, dass dessen barsche Art den Leuten nur einen Vorwand geben wollte, sich von ihm zurückzuziehen, weil er – da war sich Jonas fast sicher – sich selbst für eine Zumutung hielt. Und er, Jonas, hatte viel zu oft von diesem Angebot Gebrauch gemacht.
Marina brachte ihm ein frisches Bier und blieb unschlüssig stehen.
Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran. „Bleib, bitte.“
Sie holte sich auch ein Bier und setzte sich zu ihm. „Wie ist das wohl passiert?“
„Wenn du seine Wohnung gesehen hättest, würdest du dich nicht wundern. Max war ein Messie. Er konnte nichts wegwerfen. Kein Buch, keine Zeitung, keinen Fetzen Papier, keine kaputte Socke, nichts. Dazu kam alles, was seiner Frau gehört hatte. Keine Pille, keine Salbe, keine Frauenzeitschrift. Und er war die halbe Zeit angetrunken und rauchte ununterbrochen. Max Gantmanns Wohnung wäre das ideale Beispiel für eine Brandverhütungskampagne gewesen.“
Jonas hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Immer wieder schreckten ihn die Bilder auf: Max’ vermüllte Wohnung. Die Fenster, die wie schwarze Löcher in der Fassade klafften. Die weit sichtbare Rauchwolke. Max, wie er die Glut zertrat, an der er sich die Finger verbrannt hatte. Der unförmige Leichensack, den nur vier Männer heben konnten.
Marina lag ruhig neben ihm und schien immer schon wach gewesen zu sein, wenn er erwachte. Sie hielt seine Hand und streichelte seinen Kopf, bis er wieder in einen oberflächlichen Schlaf fiel.
Am nächsten Tag fanden sich in den Medien ein paar Meldungen zum Wohnungsbrand. Die meisten bestanden fast wörtlich aus der amtlichen Pressemitteilung: Ein Opfer zu beklagen. Übrige Bewohner evakuiert. Sachschaden mehrere hunderttausend Franken. Ab neunzehn Uhr Straße wieder normal befahrbar. Brandherd in der Wohnung des Opfers. Brandursache in Abklärung. – Am Tag darauf erschien in der größten Tageszeitung ein kurzer Nachruf. Es zeigte ein Bild von dem noch schlanken Max Gantmann und bestand aus einem kurzen Lebenslauf und einer nach Jonas’ Meinung viel zu knappen Würdigung seiner Verdienste als Wirtschaftsanalytiker des Fernsehens. „Hatte sich einen gewissen Namen als TV-Wirtschaftsexperte gemacht.“Der Text endete mit dem Satz: „Vorgestern ist Max Gantmann beim Brand seiner Wohnung umgekommen.“
„Arschlöcher“, zischte Jonas und warf die Zeitung in den Papierkorb.
In der Hauptausgabe der Tagesschau kam unter der Rubrik „Weitere Meldungen“ein kurzer Hinweis mit einem Standbild aus dem früheren Tagesschau-Studio.
„Die tun so, als ob er seit Jahren nicht mehr dabei gewesen wäre, dabei saß er jeden Tag ein paar Stockwerke höher und machte die Recherchen und Analysen, für die sie selbst zu blöd waren“, schimpfte er. Marina sagte nichts. Einen Tag später nahm sich das Boulevardblatt der Sache an.
„Fernsehstar verbrennt als Messie!“lautete die Schlagzeile. Eingeklinkt in das Foto von Max Gantmanns chaotischem Büro mit der Legende: „Wie wohnt einer, dessen Büro so aussieht?“waren zwei Porträts von Max. Eines davor, als Fernsehexperte, wie ihn die Zuschauer kannten. Und eines danach, verfettet und verwahrlost, wie er es am Schluss gewesen war. Das Foto sah aus wie ein Ausweisbild. Jonas fragte sich, wie es in die Hände der Reporter geraten war.
Der kurze Text erinnerte an Gantmanns Allgegenwart auf dem Bildschirm während seiner besten Zeiten, erwähnte den Tod seiner Frau und die anschließende Verwahrlosung, die dazu geführt habe, dass der Exstar Bildschirmverbot erhielt.
In einem Textkästchen mit dem Porträt einer alten Frau stand fett: „Seine Wohnung sah aus wie eine Müllhalde. Man brachte die Tür kaum auf.“Darunter war zu lesen, dass die Nachbarin, Frau G., einmal ein Paket, das bei ihr abgegeben worden war, zu Gantmann hinaufbrachte und dabei einen Blick in die Wohnung werfen konnte.
Armer Max. Ausgerechnet er, der Boulevard-Hasser, bekommt seinen größten Nachruf vom Boulevard.
Die Trauerfeier fand in einer kleinen Friedhofskapelle statt. Jonas sah ein paar Gesichter, die er vom Bildschirm kannte, ein paar, mit denen er in den Fernsehredaktionen zu tun hatte und ein paar Kantinenbekanntschaften.
Ein Pfarrer hielt die Abdankung, eine schlanke Ausgabe von Max, die sich als sein Bruder herausstellte, sprach ein paar unbeholfene Worte, und ein Jazzgitarrist spielte etwas sehr Freies. Es war die traurigste Trauerfeier, die Jonas je erlebt hatte. Er war froh, dass Marina ihn begleitete und während der Feier seine Hand hielt.
Vor der Kapelle wartete eine Videojournalistin, die er kannte. Sie stellte sich ihm in den Weg und reichte ihm die Hand.
„Ich weiß, das ist ziemlich schräg, aber würdest du ein kurzes Statement machen für . . . dreimal darfst du raten?“
Jonas zögerte. Zwar wusste er, was Max von Highlife gehalten hatte. Andererseits bot sich ihm hier die vielleicht letzte Gelegenheit, seinem Freund wenigstens ein bisschen Ehre zu erweisen.
(Fortsetzung folgt)