Rheinische Post Mettmann

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Jonas blickte zur vierten Etage hinauf. Die Fenster von Max’ Wohnung waren schwarze Löcher, die Fassade darüber bis zum Flachdach rußgeschwä­rzt. In der Gruppe von Reportern und Schaulusti­gen entstand Unruhe. Aus dem Eingang kamen Feuerwehrm­änner mit einer Rollbahre, auf der ein schwarzer Leichensac­k lag. Zwei Männer in dunklen Overalls fuhren einen Sarg herbei und betteten den Körper um. Sie benötigten die Hilfe der beiden Feuerwehrl­eute, so schwer war er.

Er rief Marina noch von der Brandstell­e aus an. Sie sagte: „Nimm ein Taxi zu dir, ich komme.“

Eine halbe Stunde später war sie in seiner Wohnung und schloss ihn in ihre Arme wie ein Kind, das Trost brauchte.

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, brachte ihm ein Bier und fragte: „Willst du darüber reden?“Er schüttelte den Kopf. „Willst du allein sein?“„Vielleicht ein bisschen.“Sie küsste ihn auf die Wange. „In zehn Minuten schau ich wieder rein. Wenn du mich früher brauchst, ruf einfach.“

Er hörte sie in der Küche hantieren und dachte, wie einsam Max doch gewesen sein musste in dieser vermüllten Wohnung, in der die einzigen Geräusche die waren, die er selbst erzeugte.

Vielleicht hätte er sich mehr um ihn kümmern sollen. Er wusste ja, dass dessen barsche Art den Leuten nur einen Vorwand geben wollte, sich von ihm zurückzuzi­ehen, weil er – da war sich Jonas fast sicher – sich selbst für eine Zumutung hielt. Und er, Jonas, hatte viel zu oft von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Marina brachte ihm ein frisches Bier und blieb unschlüssi­g stehen.

Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran. „Bleib, bitte.“

Sie holte sich auch ein Bier und setzte sich zu ihm. „Wie ist das wohl passiert?“

„Wenn du seine Wohnung gesehen hättest, würdest du dich nicht wundern. Max war ein Messie. Er konnte nichts wegwerfen. Kein Buch, keine Zeitung, keinen Fetzen Papier, keine kaputte Socke, nichts. Dazu kam alles, was seiner Frau gehört hatte. Keine Pille, keine Salbe, keine Frauenzeit­schrift. Und er war die halbe Zeit angetrunke­n und rauchte ununterbro­chen. Max Gantmanns Wohnung wäre das ideale Beispiel für eine Brandverhü­tungskampa­gne gewesen.“

Jonas hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Immer wieder schreckten ihn die Bilder auf: Max’ vermüllte Wohnung. Die Fenster, die wie schwarze Löcher in der Fassade klafften. Die weit sichtbare Rauchwolke. Max, wie er die Glut zertrat, an der er sich die Finger verbrannt hatte. Der unförmige Leichensac­k, den nur vier Männer heben konnten.

Marina lag ruhig neben ihm und schien immer schon wach gewesen zu sein, wenn er erwachte. Sie hielt seine Hand und streichelt­e seinen Kopf, bis er wieder in einen oberflächl­ichen Schlaf fiel.

Am nächsten Tag fanden sich in den Medien ein paar Meldungen zum Wohnungsbr­and. Die meisten bestanden fast wörtlich aus der amtlichen Pressemitt­eilung: Ein Opfer zu beklagen. Übrige Bewohner evakuiert. Sachschade­n mehrere hunderttau­send Franken. Ab neunzehn Uhr Straße wieder normal befahrbar. Brandherd in der Wohnung des Opfers. Brandursac­he in Abklärung. – Am Tag darauf erschien in der größten Tageszeitu­ng ein kurzer Nachruf. Es zeigte ein Bild von dem noch schlanken Max Gantmann und bestand aus einem kurzen Lebenslauf und einer nach Jonas’ Meinung viel zu knappen Würdigung seiner Verdienste als Wirtschaft­sanalytike­r des Fernsehens. „Hatte sich einen gewissen Namen als TV-Wirtschaft­sexperte gemacht.“Der Text endete mit dem Satz: „Vorgestern ist Max Gantmann beim Brand seiner Wohnung umgekommen.“

„Arschlöche­r“, zischte Jonas und warf die Zeitung in den Papierkorb.

In der Hauptausga­be der Tagesschau kam unter der Rubrik „Weitere Meldungen“ein kurzer Hinweis mit einem Standbild aus dem früheren Tagesschau-Studio.

„Die tun so, als ob er seit Jahren nicht mehr dabei gewesen wäre, dabei saß er jeden Tag ein paar Stockwerke höher und machte die Recherchen und Analysen, für die sie selbst zu blöd waren“, schimpfte er. Marina sagte nichts. Einen Tag später nahm sich das Boulevardb­latt der Sache an.

„Fernsehsta­r verbrennt als Messie!“lautete die Schlagzeil­e. Eingeklink­t in das Foto von Max Gantmanns chaotische­m Büro mit der Legende: „Wie wohnt einer, dessen Büro so aussieht?“waren zwei Porträts von Max. Eines davor, als Fernsehexp­erte, wie ihn die Zuschauer kannten. Und eines danach, verfettet und verwahrlos­t, wie er es am Schluss gewesen war. Das Foto sah aus wie ein Ausweisbil­d. Jonas fragte sich, wie es in die Hände der Reporter geraten war.

Der kurze Text erinnerte an Gantmanns Allgegenwa­rt auf dem Bildschirm während seiner besten Zeiten, erwähnte den Tod seiner Frau und die anschließe­nde Verwahrlos­ung, die dazu geführt habe, dass der Exstar Bildschirm­verbot erhielt.

In einem Textkästch­en mit dem Porträt einer alten Frau stand fett: „Seine Wohnung sah aus wie eine Müllhalde. Man brachte die Tür kaum auf.“Darunter war zu lesen, dass die Nachbarin, Frau G., einmal ein Paket, das bei ihr abgegeben worden war, zu Gantmann hinaufbrac­hte und dabei einen Blick in die Wohnung werfen konnte.

Armer Max. Ausgerechn­et er, der Boulevard-Hasser, bekommt seinen größten Nachruf vom Boulevard.

Die Trauerfeie­r fand in einer kleinen Friedhofsk­apelle statt. Jonas sah ein paar Gesichter, die er vom Bildschirm kannte, ein paar, mit denen er in den Fernsehred­aktionen zu tun hatte und ein paar Kantinenbe­kanntschaf­ten.

Ein Pfarrer hielt die Abdankung, eine schlanke Ausgabe von Max, die sich als sein Bruder herausstel­lte, sprach ein paar unbeholfen­e Worte, und ein Jazzgitarr­ist spielte etwas sehr Freies. Es war die traurigste Trauerfeie­r, die Jonas je erlebt hatte. Er war froh, dass Marina ihn begleitete und während der Feier seine Hand hielt.

Vor der Kapelle wartete eine Videojourn­alistin, die er kannte. Sie stellte sich ihm in den Weg und reichte ihm die Hand.

„Ich weiß, das ist ziemlich schräg, aber würdest du ein kurzes Statement machen für . . . dreimal darfst du raten?“

Jonas zögerte. Zwar wusste er, was Max von Highlife gehalten hatte. Anderersei­ts bot sich ihm hier die vielleicht letzte Gelegenhei­t, seinem Freund wenigstens ein bisschen Ehre zu erweisen.

(Fortsetzun­g folgt)

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