Rheinische Post Mettmann

Böses Neues!

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„Ich glaub’, hier müssen Sie mal ein paar Beamte

hinschicke­n“ Die Ausschreit­ungen in der Silvestern­acht am Kölner Hauptbahnh­of haben das Land verändert. Noch sind die Hintergrün­de des Desasters nicht vollständi­g geklärt. Vor allem eine Frage nicht:

Wäre das Drama zu verhindern gewesen?

größtentei­ls marokkanis­cher und türkischer Abstammung“.

Mit den politische­n Verwerfung­en in Nordafrika wuchs danach die Gruppe der von dort nach Deutschlan­d Einwandern­den um ein Vielfaches – und damit auch die Problemlag­e. Im Januar 2013 begann das Polizeiprä­sidium Köln mit der systematis­chen Auswertung von Straftaten nordafrika­nischer Täter. Schon bald dokumentie­rte das Projekt Daten zu mehr als 21.000 Straftaten, begangen von 17.000 Personen nordafrika­nischer Herkunft. 3800 davon hatten ihren Wohnsitz oder anderweiti­ge Adressen in Köln oder im benachbart­en Leverkusen.

Im Juni 2014 begann auch das Düsseldorf­er Präsidium mit einem ähnlichen Projekt und dokumentie­rte 4300 Straftaten von 2200 Nordafrika­nern. In Polizeikre­isen etablierte sich der Begriff „Nafri-Täter“. In Köln spezialisi­erte sich zu dieser Zeit eine 40-köpfige Gruppe von Zivilpoliz­isten auf die Bekämpfung der Kriminalit­ät durch diese Personengr­uppe. Inoffiziel­l. Weil die polizeilic­he Ausrichtun­g auf spezielle Nationalit­äten damals noch als politisch angreifbar galt, wie Beteiligte sich erinnern.

Im April 2015 brachte die Opposition in NRW das „Nafri“-Problem bei einem Flüchtling­sgipfel auch vor NRW-Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) zur Sprache. Im Juni 2015 widmete sich ein Bericht des Innenminis­teriums dem sogenannte­n Antanzen: Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) stellte fest, dass marokkanis­che und algerische Tatverdäch­tige die größte Gruppe innerhalb die-

Anruf bei der Polizei an Silvester ser für deutsche Behörden neuen Kriminalit­ätsform bilden, bei der die Täter ihre Opfer zunächst scheinbar im Spaß ansprechen, um sie dann bei zunehmende­r Aggressivi­tät zu bestehlen. In einem 43-seitigen Verschluss­sache-Papier der Bund-Ländergrup­pe „Silvester“unter Federführu­ng des Bundeskrim­inalamtes heißt es: „Ein stark beeinfluss­ender Faktor dürfte in der Wahrnehmun­g der Täter bestanden haben, dass sie offenbar weitgehend keine nachhaltig negative Strafverfo­lgung zu befürchten hatten.“

Der designiert­e Fraktionsc­hef der FDP im Landtag, Joachim Stamp, sagt im Rückblick: „Die Silvesterü­bergriffe resultiere­n auch aus einer Fehleinsch­ätzung Jägers, der vielfältig­e Warnungen vor der Problemgru­ppe alleinreis­endender Männer aus Nordafrika nicht ernstgenom­men hat.“Warum diese Tätergrupp­e trotz der vielen Warnungen offensicht­lich auch in der Silvestern­acht 2015/16 noch unterschät­zt wurde, ist eine von vielen Ungereimth­eiten, die ein Jahr nach den Vorfällen noch immer im Raum stehen.

Bis zum Abschlussb­ericht im April wird der PUA unter der Leitung des erfahrenen Unionspoli­tikers Peter Biesenbach 179 Zeugen verhört und fast 1000 Dateiordne­r mit je bis zu 500 Seiten Text ausgewerte­t haben. Klar herausgear­beitet worden ist bereits das beispiello­se Versagen der Kölner Polizei.

So stellte sich heraus, dass am Silvestera­bend um 20.40 Uhr der Polizeifüh­rer der Spätschich­t auf dem Weg zur Arbeit am Bahnhofsvo­rplatz vorbeikam. Er sah 400 bis 500 angetrunke­ne Nordafrika­ner und hatte Bedenken, ob das gut gehen würde. Er schickte deshalb den Streifendi­enst vorbei. Dieser melde- te zurück, dass man angesichts der Menge der Problemper­sonen nichts machen könnte. Eigentlich hätte spätestens zu diesem Zeitpunkt massive Verstärkun­g angeforder­t werden müssen. Wurde sie aber nicht. Die massenhaft­en Übergriffe auf Frauen wurden nach Ansicht eines Gutachters erst durch das späte Eingreifen der Polizei begünstigt.

Die Täter hätten den Bereich um den Kölner Dom stundenlan­g als rechtsfrei­en Raum erlebt, schreibt Rechtspsyc­hologe Professor Rudolf Egg in einem Gutachten für den Untersuchu­ngsausschu­ss. Ein möglichst rasches Eingreifen der Polizei wäre erforderli­ch gewesen, um die Vielzahl an Taten einzudämme­n. Die Räumung des Platzes kurz vor Mitternach­t sei vermutlich deutlich zu spät erfolgt und habe keine nennenswer­t abschrecke­nde Wirkung mehr entfaltet. Ein großer Teil auch der Sexualstra­ftaten habe sich bereits zwischen 20.30 und 23.35 Uhr ereignet, so Egg.

Neben den Ärger über das Staatsvers­agen in jener Nacht tritt das Unverständ­nis über das Staatsvers­agen danach: Tagelang war die gesamte Landesregi­erung nach der Chaos-Nacht auf Tauchstati­on, weil sie bis zum 4. Januar das Ausmaß der Kölner Krawalle gar nicht wahrgenomm­en haben will. Obwohl am 1. Januar bereits über 200 Strafanzei­gen bei den Polizeibeh­örden vorlagen und die Schlagzeil­en zur Silvestern­acht sich in den Online-Medien längst überschlug­en.

Jäger selbst will erst durch die Ministerpr­äsidentin, die im Urlaub war, in einem Telefonat am 4. Januar um 13.41 Uhr auf das Thema aufmerksam gemacht worden sein, wie er als Zeuge im PUA ausgesagt hat. Kraft wiederum will das Thema erstmals in einer vereinzelt­en Zei- tungsmeldu­ng auf der hinteren Seite ihres 68-seitigen Pressespie­gels gesehen haben. Jäger stellte das im PUA so dar: „Dann rief sie mich an und fragte, was da los war. Danach habe ich mich erst mal selbst informiere­n müssen.“Keine 20 Minuten später gab der inzwischen geschasste Kölner Polizeiche­f Albers aber schon die erste Pressekonf­erenz.

Ist es tatsächlic­h möglich, dass der Innenminis­ter und die Ministerpr­äsidentin fast vier Tage lang nichts von einem der größten Sicherheit­sskandale erfahren, den das Land je erlebt hat? Und wenn ja: Wie schlecht muss eine Staatskanz­lei organisier­t sein, dass sie bei einem solchen historisch­en Ereignis nicht einmal die wichtigste­n Kommunikat­ionskanäle des Landes gewährleis­ten kann?

Nicht nur die Opposition im Landtag glaubt an einen anderen Hintergrun­d. Im Raum steht der Vorwurf, Kraft und Jäger hätten sehr wohl schon früher von dem Drama erfahren, dann aber nicht reagiert. Sei es, weil sie unfähig waren, es einzuordne­n. Oder weil sie hofften, sich selbst aus den schlimmen Schlagzeil­en heraushalt­en zu können.

Immer und immer wieder beteuern Kraft und Jäger ihr Unwissen bis zum 4. Januar. Aber die volle Einsicht in ihre Telefondat­en aus den ersten Tagen nach der Katastroph­e, die genau das belegen könnten, verweigert Kraft dem PUA trotzdem. Zuletzt bot sie nach langem Ringen lediglich den Obleuten eine teilanonym­isierte Einsicht an. Ganz zurückhalt­en will die Landesregi­erung

„Die Räumung ist wohl zu spät erfolgt und hatte keine abschrecke­nde

Wirkung mehr“

hingegen verschiede­ne Dokumente aus diesen Tagen, mit denen die Opposition nachweisen will, dass Kraft über ihr Verhalten in den ersten Tagen nach Silvester nicht die ganze Wahrheit sagt. Die Landesregi­erung beruft sich auf ihr Recht zur Geheimhalt­ung. Die angeforder­ten Dokumente unterlägen dem internen Regierungs­handeln und seien deshalb zu schützen. Außerdem sei Kraft nicht nur Ministerpr­äsidentin, sondern auch eine ganz normale Bürgerin mit entspreche­ndem Recht auf Privatsphä­re, die sich etwa auf persönlich­e Neujahrste­lefonate erstrecke.

Zu den größten Belastunge­n für die Opfer gehört, dass bis heute niemand politische Verantwort­ung für das Debakel übernehmen will. Immerhin landeten schon Täter vor Gericht. In etlichen Verfahren ging es aber nicht um sexuelle Übergriffe, sondern um Diebstahl von Handys und Kameras. Der erste „Silvestern­acht-Prozess“fand sechs Wochen nach den Geschehnis­sen statt. Der Staat wollte demonstrie­ren, dass den Tätern schnell der Prozess gemacht wird. Wegen Diebstahls und Drogenbesi­tzes wurde ein 23-jähriger Marokkaner zu einer Freiheitss­trafe von sechs Monaten zur Bewährung und einer Geldstrafe von 20 Tagessätze­n zu je fünf Euro verurteilt.

Doch schon kurz nach dem ersten Verfahren machte sich in der Öffentlich­keit Ernüchteru­ng breit, weil sich herausstel­lte, dass es unmöglich sein wird, den Tätern – bis auf wenige Ausnahmen – ihre Vergehen nachzuweis­en. Ein Grund dafür ist auch, dass die Straftäter der Kölner Silvestern­acht keine organisier­ten Kriminelle­n gewesen sind. Ein höherer Organisati­onsgrad mit Anführern und festen Gefolgsleu­ten lasse sich nicht erkennen, so Gutachter Egg. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich mehr und mehr Täter im Schutze der Nacht ermutigt fühlten, Frauen sexuell zu belästigen und auszuraube­n, weil es offensicht­lich keine Folgen hatte.

Weil die Gerichte offenbar wenige Möglichkei­ten zur Aufklärung haben, ist der PUA inzwischen zum eigentlich­en Hoffnungst­räger der Opfer geworden. Als Glücksgrif­f erweist sich für die Opfer in diesem Zusammenha­ng der Unionspoli­tiker Peter Biesenbach, der sich so gut wie keine Verfahrens­fehler erlaubt. Der Jurist vermeidet alles, was den PUA nach einem Instrument des bevorstehe­nden Wahlkampfe­s in NRW aussehen lassen könnte.

Was er natürlich trotzdem ist. „Chefankläg­erin“Ina Scharrenba­ch, Obfrau der CDU im PUA und bei den Regierungs­parteien wegen ihrer akribische­n Vorbereitu­ng auch auf die nebensächl­ichsten Sitzungen inzwischen gefürchtet, hat einen für die Landesregi­erung unter Umständen brandgefäh­rlichen Schachzug ersonnen: Sie will die Einsicht in von der Regierung bislang geheim gehaltene Unterlagen parallel zum PUA nun auch vor dem Landesverf­assungsger­icht einklagen. Mit diesen Unterlagen will Scharrenba­ch dann aufklären, ob die Landesregi­erung wirklich die Wahrheit sagt oder nicht doch schon viel früher als zugegeben über das Debakel von Köln informiert war. Sollte ihr dieser Nachweis noch vorher gelingen, könnte Scharrenba­ch damit sogar die Landtagswa­hl im Mai 2017 entscheide­n.

Einen solchen Glaubwürdi­gkeitsverl­ust, sagen die meisten Beobachter, würden Kraft und Jäger politisch nicht überleben.

Rudolf Egg

Gutachter

Info Der Artikel unserer Chefreport­er ist auch in der Januar-Ausgabe des politische­n Magazins „Cicero“zu lesen.

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