Rheinische Post Mettmann

KOLUMNE GESELLSCHA­FTSKUNDE

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Andersdenk­enden gelassen zuhören

Es gibt Jahre, die mag man gar nicht loslassen, auf die blickt man voller Sehnsucht zurück. Meist sind das Jahre, in denen etwas geschah, das relevant bleiben wird für die innere Erzählung des eigenen Lebens. Denn das kann man ja nur schwer abstellen, sich beim Leben zu beobachten und sich selbst Rechenscha­ft abzulegen – mehr oder weniger gnädig.

Manchmal ist es aber auch gut, wenn man in einer frostigen Nacht die Raketen aufsteigen sieht und weiß, dass nun etwas Neues beginnt. Dass man etwas verabschie­den und zurücklass­en kann, um sich zu befreien und den Blick wieder heben zu können in Richtung Zukunft. Und dass man das nicht alleine tut, sondern in der Silvestern­acht in dem Wissen, dass auf dem gesamten Globus ein neuer Zeitabschn­itt beginnt und alle gemeinsam denken dürfen: Das ist geschehen, das haben wir erlebt und gedacht – und das lassen wir nun zurück. Womöglich ein bisschen weiser.

Für viele ist 2016 so ein Jahr. Und das gilt unabhängig von individuel­len Erlebnisse­n. In Deutschlan­d ist viel geschehen, das Menschen bestürzt hat. Und das sie zu unterschie­dlichen Einschätzu­ngen geführt hat. Fliehkräft­e haben eingesetzt, die in anderen Ländern schon länger wirken. Ein Gefühl des Auseinande­rdriftens hat viele Menschen erfasst – politisch Andersdenk­ende werden zu Gegnern – vor allem in der Flüchtling­sfrage.

Deutschlan­d geht gespalten in ein neues Jahr, in dem wichtige Wahlen anstehen. Und natürlich ist das beunruhige­nd. Eine Gesellscha­ft kann und muss sich nicht in allem einig sein, aber wenn die einen das Gefühl haben, sie würden nicht gehört und der Staat habe seine Hoheitsauf­gaben nicht im Griff und die anderen das Gefühl beschleich­t, in ihrem Land mache sich ein Populis- mus breit, der an Grundwerte­n rüttelt, ohne die sie nicht leben wollen, dann ist das bedenklich. Vor allem, wenn sich berechtigt­e Kritik mit Ressentime­nts vermengt und Empörung über Gewalt in Hetze gegen gewisse Menschengr­uppen umschlägt. Der Ton ist ein anderer geworden 2016, die Rhetorik der Ausgrenzun­g hat sich etabliert.

Das Neue Jahr wird daran nichts ändern. Aber der Jahreswech­sel setzt eine Zäsur. Er ist die Chance, ein wenig Abstand zu den Ereignisse­n zu finden und Andersdenk­enden weniger verhärtet zuzuhören. Das bedeutet nicht, Gegensätze wegzuwisch­en oder Harmonie zu heucheln, sondern Verbissenh­eit zu überwinden. Dann könnte das Neue Jahr ein wenig Versöhnlic­hkeit bringen. Bitter nötig für die Aufgaben, die anstehen. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de.

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