Rheinische Post Mettmann

Zweifel an den Behörden im Fall Amri wachsen

- VON K. BIALDIGA, D. HÜWEL, G. MAYNTZ UND T. REISENER

In NRW setzt die Opposition eine Sondersitz­ung durch. Die Justiz des Landes ermittelte sogar gegen den mutmaßlich­en Attentäter.

BERLIN/DÜSSELDORF Mit jedem Tag und jeder neuen Erkenntnis über die Bewegungen, Handlungen und Pläne des mutmaßlich­en Berliner Weihnachts­marktatten­täters Anis Amri wachsen die Zweifel an den Vorkehrung­en der Sicherheit­sbehörden. Die Opposition setzte nun für den nächsten Donnerstag eine Sondersitz­ung des Innenaussc­husses im NRW-Landtag durch, um kritische Fragen aufzurufen.

Schon vor Weihnachte­n hatten die Piraten die Bemühungen von NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) als zu durchsicht­ig kritisiert, mit denen er die eigenen Sicherheit­sbehörden von Vorwürfen freizuhalt­en versuchte. Nun fragt auch die CDU: „Hält Herr Jäger es für hinnehmbar, dass geduldete islamistis­che Gefährder in Nordrhein-Westfalen offenbar folgenlos wiederholt gegen ihre Residenzpf­licht verstoßen und sich bei einem Informante­n der Polizei nach Schusswaff­en erkundigen?“, will Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Lutz Lienenkämp­er (CDU) wissen.

Auskunft verlangt die Opposition auch zu der Frage, warum die Abschiebeh­aft von Anis Amri im schwäbisch­en Ravensburg nicht verlängert wurde. Das fragt man sich selbst in den Ausländerb­ehörden. Ein Insider der Polizei, der viel mit Abschiebun­gen zu tun hat, sagte unserer Redaktion: „Wir wundern uns alle.“Die Abschiebeh­aft von Amri hätte laut Paragraf 62 des Aufenthalt­sgesetzes bei Fluchtgefa­hr zunächst für sechs Monate angeordnet, dann um weitere zwölf Monate verlängert werden können. „Wir wissen nicht, warum das nicht geschehen ist“, sagte der Beamte.

Bisherigen Informatio­nen zufolge saß Amri im Juli in Ravensburg in Abschiebeh­aft. Nach Medienbe- richten kam er aber auf Antrag der Ausländerb­ehörde Kleve nach einem Tag wieder frei. Laut Jäger konnte Amri nicht abgeschobe­n werden, weil er keine gültigen Ausweispap­iere bei sich hatte. Das Innenminis­terium verweist auf eine weitere Bestimmung aus Paragraf 62, wonach Abschiebeh­aft nicht angeordnet werden darf, wenn eine Abschiebun­g nicht innerhalb von drei Monaten erfolgen kann. Das habe auf Amri zugetroffe­n. Erfahrungs­gemäß dauert die Ersatzbesc­haffung von Papieren aus dem Maghreb deutlich länger. Im Fall Amri trafen die Dokumente erst nach sechs Monaten ein.

Aus diesem Grund hatte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) im Sommer vorgeschla­gen, die Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit als Grund für Abschiebeh­aft in das Gesetz aufzunehme­n. Auf diese Weise hätte Amri als Gefährder mit erhebliche­m Gewaltpote­nzial für 18 Monate in Abschiebeh­aft genommen werden können. Anfang Oktober gab de Maizière die neue Formulieru­ng in die Ressortabs­timmung der Bundesregi­erung, scheiterte aber zunächst an Bedenken der SPD-geführten Ministerie­n. Anfang Januar wollen Innen- und Justizmini­ster über dringende gesetzlich­e Konsequenz­en beraten.

Wieso Amri 2015 mehrere Asylanträg­e stellen konnte, erklärt das NRW-Innenminis­terium mit dem damals noch lückenhaft­en Registrier­ungsverfah­ren des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e. Inzwischen gebe es keinen Asylbewerb­er mehr, der nicht erkennungs­dienstlich behandelt worden sei.

Auch die im Gemeinsame­n Terrorabwe­hrzentrum in Berlin vertretene­n Behörden lagen mit ihrer Einschätzu­ng falsch. Amri soll dort sieben Mal als Gefährder aufgerufen worden sein. Wochentägl­ich hielten sich die Behörden über ihre neues- ten Erkenntnis­se auf dem Laufenden. Bei Amri klingelten aber offenbar nicht die Alarmglock­en, obwohl dieser sich unter den Augen staatliche­r Beobachter als Attentäter in der Islamisten­szene angeboten und auch Informatio­nen über die Herstellun­g von Bomben gesucht haben soll. Zeitweise war Amri sogar ins Visier der NRW-Strafverfo­lgungsbehö­rden geraten. Die Duisburger Staatsanwa­ltschaft bestätigte, dass sie im April ein Ermittlung­sverfahren wegen Betrugs gegen Amri eingeleite­t hatte. Demnach soll der Tunesier im November 2015 unter verschiede­nen Namen Sozialleis­tungen in Emmerich und Oberhausen beantragt haben. Dabei sei es um eine Überschnei­dungszeit von einigen Tagen gegangen. Nach Informatio­nen unserer Redaktion scheiterte ein Verfahren daran, dass es keine zustellfäh­ige Adresse gab.

Und es sind noch weitere Fragen offen: Wie kam Amri nach dem Anschlag nach Italien? Offenbar reiste er über die Niederland­e und Frankreich. Damit könnte auch NRW wieder in den Blick geraten.

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