Rheinische Post Mettmann

Wie es ist, Charlie zu sein

- VON KLAS LIBUDA FOTO: CATHERINE MEURISSE, DIE LEICHTIGKE­IT, CARLSEN VERLAG, HAMBURG 2016

Die Zeichnerin Catherine Meurisse überlebte den Anschlag auf „Charlie Hebdo“. Nun hat sie ein Buch über ihre Erlebnisse verfasst.

DÜSSELDORF Das ist vor allem ein Buch über die Liebe, aber es beginnt mit Kummer, der Catherine Meurisse vielleicht das Leben rettete: Sie zieht die Bettdecke bis zur Nasenspitz­e, mag nicht aufstehen, offenbar wurde sie gerade erst von ihrem Freund verlassen, und nun liegt sie da und hält sich am Kopfkissen fest. Es ist der 7. Januar 2015, 10.15 Uhr: eine Stunde vor dem Anschlag, der den Lauf der Zeit für sie in ein Davor und ein Danach teilen wird.

Davor ist Catherine Meurisse seit zehn Jahren Zeichnerin bei der französisc­hen Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“. Entdeckt hatten sie Bernard Verlhac und Philippe Honoré bei einem Zeichenwet­tbewerb, da war sie gerade Anfang 20; zu „Charlie“holten sie schließlic­h Jean Cabut und Georges Wolinski, und egal, welchen dieser Namen man heute bei Google eingibt, immer steht da derselbe traurige Absatz: „Gestorben, 7. Januar 2015, Paris, Frankreich“.

Das war der Tag, an dem die Islamisten Saïd und Chérif Kouachi die Redaktion an der Rue Nicolas-Appert überfielen und dort zwölf Menschen erschossen. Es war der Tag, an dem Catherine Meurisse zu spät kam, weil sie Liebeskumm­er hatte und den Bus verpasste und noch vor der Redaktions­tür gewarnt wurde. Da waren die Attentäter noch im Gebäude. In ihrer Graphic Novel, also einem Comicroman, sieht man, wie sie in einem Nachbarhau­s Schutz sucht. „TAKTAKTAKT­AK“, schreibt Meurisse und zeichnet, wie sie sich die Ohren zuhält und schließlic­h in einer Wand neben Edvard Munchs „Schrei“verschwind­et. Vom Anschlag selbst sieht man in „Die Leichtigke­it“nichts, Catherine Meurisse erzählt vom Danach.

Sie hat Kollegen und Freunde verloren, allein das wiegt tonnenschw­er, und sie wird von der plötzliche­n Solidaritä­t übermannt. Gut gemeint sind die „Je suis Charlie“Bekundunge­n, die sich nach dem Anschlag in Windeseile verbreiten, zunächst im Internet und auf Plakaten, kurz darauf auch auf Tassen und T-Shirts. Aber zur Wahrheit ge- hört auch, dass die allermeist­en nach der Tat vor allem ihrer Betroffenh­eit Ausdruck verleihen, sich wohl aber nicht mit der kompromiss­losen Haltung der Zeitung gemein machen wollen. Plötzlich sprechen Madonna und der Papst den Redakteure­n Mut zu. „Charlie Hebdo“wird mir nichts, dir nichts einkassier­t; „auf einmal ist man selbst einer von ihnen“, sagte Zeichner Rénald Luzier später.

US-Präsident Barack Obama bittet Catherine Meurisse ins Weiße Haus, so erzählt sie es in ihrem Buch. Obama hatte nicht am Solidaritä­tsmarsch in Paris teilgenomm­en, es gab Kritik, er meint, etwas gutmachen zu müssen. Jeder will nun ein Stück von „Charlie“, aber kaum einer weiß, wie es ist, Charlie zu sein. Meurisse sagt dem Präsidente­n ab.

Wie es ist, Charlie zu sein – kurzum: Es muss beschissen sein. Die Nummer der Überlebend­en vom 14. Januar 2015 wird unter Polizeisch­utz produziert – Auflage: drei Millionen – bis heute wird „Charlie Hebdo“streng bewacht. Mit letzter Kraft beteiligt sich Meurisse an der Ausgabe, es gilt nun, ein Zeichen zu setzen. Der Titel zeigt schließlic­h eine Mohammed-Karikatur mit „Je suis Charlie“-Schild unter der Überschrif­t „Tout est pardonné“– alles ist vergeben – von Zeichner Luzier, genannt Luz. Nachdem das Heft erschienen ist, verliert Meurisse ihr Gedächtnis als Folge des traumati- schen Schocks. Monatelang bringt sie nichts mehr zu Papier.

Auch Rénald Luzier hat seine Erlebnisse bereits in einem Buch verarbeite­t. Ende 2015 erschien „Katharsis“, eine Sammlung mit Zeichnunge­n, Trauerarbe­it, der Versuch, mit den Umständen fertig zu werden. Die Polizei befragte Luzier nach der Tat, und er bat um Stift und Papier: Luz malte ein schrecksta­rres Männchen mit riesigen Augen. Er meinte sich.

Sie habe zunächst angenommen, Luz habe die Gruppe der Überlebend­en im Stich gelassen, sagte Meurisse in einem Interview. Erst später verstand sie, dass „Katharsis“auch der Versuch war, wieder Souveränit­ät über das Ich zu erlangen. Fünf Monate nach dem Anschlag machte auch sie ihre erste Zeichnung, das Titelbild für „Die Leichtigke­it“: Es zeigt eine Frau in einer Wüste.

Catherine Meurisse erzählt in ihrem Band vom Überleben nach dem Terror. Es sei der Versuch, ihre Haut zu retten, sagt sie. Ein Comic als Lebensbewe­is. Mit wenigen Tuschestri­chen illustrier­t sie die Suche nach sich selbst, ein paar Seiten hat sie mit Aquarellen bemalt, man sieht zu, wie sich die Künstlerpe­rsönlichke­it neu zusammense­tzt.

Nach den Anschlägen auf die Konzerthal­le Bataclan und umliegende Cafés im November 2015 flüchtet Meurisse schließlic­h nach Rom. Sie erinnert sich an ihre Liebe zur Kunst, sie möchte sich von der Schönheit überwältig­en lassen, den 7. Januar auslöschen. Gelingen kann das nicht. Aber sie findet Trost.

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Ausschnitt­e aus „Die Leichtigke­it“.

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