Rheinische Post Mettmann

BERLINER REPUBLIK

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Das Parlament der Tausend

Neulich im Restaurant des Reichstags: Ein direkt gewählter CDU-Abgeordnet­er empfiehlt mir, mal einen Blick ins schütter besetzte Plenum zu werfen. Ob mir die Grüppchen in den hinteren Sitzreihen auffielen? „Egal, was da vorne verhandelt wird“, sagt der Abgeordnet­e: „Es geht da nur noch um eins: einen guten Platz auf der Liste.“

Die Liste, das ist die Lebensvers­icherung des mediokren Parlamenta­riers, der einen der 299 Wahlkreise nie gewinnen würde, sondern nur über dieses Kungel- und Klüngelins­trument der Parteien seinen Sitz zu sichern vermag. Im Aufgalopp zur Bundestags­wahl werden die Tickets für die Liste vergeben.

Die Listenmand­ate sind ein Teil des Preises unseres sehr gerechten Verhältnis­wahlrechts. Über die Listen werden am Ende auch die sogenannte­n Überhangma­ndate verteilt, die Wildcards für jene, die es nicht direkt ins Hauptfeld geschafft haben. Diese Überhangma­ndate haben sich im Bundestag in dem Maße vermehrt, wie die Zahl der dort vertretene­n Parteien zunahm. 630 Abgeordnet­e umfasst das aktuelle Parlament. 630 Volksvertr­eter für ein Volk von 80 Millionen. Zum Vergleich: 1972 waren es 496 für knapp 60 Millionen; im EU-Parlament, das 500 Millionen Menschen vertritt, sitzen 751 Parlamenta­rier.

Wenn im nächsten Parlament sechs Parteien vertreten sein wer- den, müssen wir im Bundestag mit bis zu 800 Abgeordnet­en rechnen. Die repräsenta­tive Demokratie sollte uns etwas wert sein. Und doch sei der Hinweis erlaubt: Ein Volksvertr­eter kostet diejenigen, die er vertritt, im Jahr rund 300.000 Euro.

Deshalb muss der Aufblähung dieses Apparats Einhalt geboten werden. Der scheidende Bundestags­präsident Norbert Lammert hat sich das als Vermächtni­s zur Aufgabe gemacht: etwas gegen die scheinbar unaufhalts­ame Inflation der Überhangma­ndate zu tun. Dafür gebühren ihm jeder Respekt und alle Unterstütz­ung der Anständige­n unter den Parlamenta­riern. Denn selbst wenn sie vom Schutzrefl­ex der Frösche betroffen sind, die be- kanntlich auch nicht „Hurra“schreien, wenn der Sumpf trockengel­egt werden soll: Sturer Egoismus führt zu einer weiteren Entkoppelu­ng des Parlamenta­rismus und der Politik von jenen, in deren Namen ihnen alle Privilegie­n des Parlamenta­riers eingeräumt wurden.

Noch in dieser Legislatur­periode sollte dieses Vermächtni­s des Norbert Lammert Gesetz werden. Damit dieses Stoppschil­d spätestens bei der darauffolg­enden Bundestags­wahl 2021 greift. Christoph Schwennick­e ist Chefredakt­eur des „Cicero“und schreibt regelmäßig an dieser Stelle im Rahmen einer Kooperatio­n. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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