Die Hohepriesterin des Brexit
Theresa May setzt im Alleingang ihre Interpretation des britischen EU-Austritts durch. Kritiker sagen: Widerstand wird nicht geduldet.
LONDON Der Mann mag in seiner Heimat umstritten und unbeliebt sein, aber an seiner Analyse ist nichts auszusetzen: „Im Vereinigten Königreich“, meinte Tony Blair, „haben wir im Moment einen Einparteienstaat.“Der frühere britische Premierminister beklagte in einem Interview die Dominanz der Konservativen Partei und die Schwäche der Opposition: „Wenn man alles zusammennimmt und in Betracht zieht, dass die konservative Parteichefin nicht gewählt wurde, dann ist da etwas ernsthaft falsch.“
Wo er recht hat, hat er recht. Theresa May ist Premierministerin geworden, ohne dass die britischen Wähler dabei ein Wörtchen mitzureden gehabt hätten. Jetzt reklamiert die 60Jährige das alleinige Auslegungsrecht, was die Referendumsentscheidung für den Brexit bedeuten soll, und will in eigener Machtvollkommenheit das Land auf eine existenzielle Neuausrichtung zusteuern. Von den gewählten Volksvertretern erwartet sie dabei, dass die lediglich abnicken, was die Regierung als britische Verhandlungsposition gegenüber der Europäischen Union definieren wird.
Blairs Kollege und Amtsvorgänger John Major hatte kürzlich ebenfalls die unglückliche Konstellation beklagt, in der „eine Tyrannei der Mehrheit“über die Bedingungen eines harten Brexit entscheiden könne. Major sah – ganz im Gegensatz zu seiner Parteichefin – keine Gründe, warum die Briten nicht in einem zweiten Referendum ihre Entscheidung überdenken sollten. Dafür gebe es „vollkommen glaubwürdige Argumente“.
Für Theresa May sind solche Äußerungen reine Häresie. Sie, die im Wahlkampf noch gegen den Brexit war, hat sich die Referendumsentscheidung ganz und gar zu eigen ge- nen im 650-köpfigen Unterhaus nicht viel bewegen. Beim Thema Brexit könnten sie gemeinsame Sache mit den Volksvertretern von der Scottish National Party machen, denn die treten ebenfalls entschlossen gegen einen Austritt aus dem Binnenmarkt ein. Doch auch die schottischen Nationalisten haben nicht genug Mandatsträger, gerade einmal 54. Und die Grünen, die ebenfalls gegen einen harten Brexit sind, haben eine einzige Abgeordnete. Das Anti-Brexit-Lager kann nur darauf hoffen, Gleichgesinnte unter den Konservativen zu finden.
Und die gibt es es durchaus. Während des Referendumswahlkampfs stand mehr als die Hälfte der konservativen Mandatsträger im Remain-Lager. Jetzt sind zwar viele umgeschwenkt, aber es gibt einen harten Kern von bis zu 30 konservativen Unterhaus-Abgeordneten, die sich gegen einen harten Brexit stemmen, angeführt von den Ex-Ministerinnen Anna Soubry und Nicky Morgan. Da die parlamentarische Arbeitsmehrheit von Theresa May nur bei 14 Sitzen liegt, ist es nicht verwunderlich, dass die Hohepriesterin des Brexit das britische Parlament nicht einbinden will. Merke: Selbst in einem Einparteienstaat kann man Abstimmungen verlieren.
Allerdings könnte der Supreme Court der Premierministerin einen Strich durch die Rechnung machen. Noch im Januar wird das höchste Gericht des Königreichs darüber urteilen, ob das Parlament ein Mitspracherecht bekommt und ein Gesetz erlassen muss, dass May berechtigt, den Brexit einzuleiten. In diesem Fall wären, wie der Engländer sagt, alle Wetten vom Tisch und vieles möglich. Das Unterhaus könnte Gesetzeszusätze verabschieden, das Oberhaus wäre versucht, das legislative Verfahren zu verzögern. Auf Theresa May käme eine erste Machtprobe zu.